Polizeigewalt in den USA:Gesetzeshüter im rechtsfreien Raum

Schießwütig, rassistisch, außer Kontrolle: So denken nicht nur Schwarze über Amerikas Polizisten. Die Entscheidungen in New York und Missouri, Beamte nicht für ihr tödliches Handeln zur Rechenschaft zu ziehen, untergraben das Vertrauen in den Rechtsstaat. Es ist höchste Zeit für neue Regeln.

Kommentar von Matthias Kolb, Washington

Es ist kaum auszuhalten, sich diese Videos aus Amerikas Alltag anzuschauen. Da ist das Video aus Cleveland, das zeigt, wie der zwölfjährige Afroamerikaner Tamir Rice erschossen wird - zwei Sekunden, nachdem die Polizisten mit ihrem Auto am Spielplatz angekommen sind. Und da ist die Aufnahme aus Staten Island, die zeigt, wie ein halbes Dutzend Polizisten den schwarzen Familienvater Eric Garner niederreißt.

Garner wiegt mehr als 150 Kilogramm, also nimmt ihn ein Beamter in den Würgegriff, ein anderer drückt den Kopf des Mannes brutal auf den Boden. Immer wieder ruft der Asthmatiker: "Ich kann nicht atmen, ich kann nicht atmen", doch die Festnahme geht weiter. Kurze Zeit später ist Garner tot - und der weiße Polizist, der ihn würgte, wird nicht angeklagt, wie eine Grand Jury soeben entschieden hat.

Dass bei Twitter und Facebook der Hashtag #ICantBreathe enorm populär ist, wundert nicht. Garners Flehen macht deutlich, was fast alle Schwarze und auch immer mehr Weiße realisieren: Viele amerikanische Polizisten sind außer Kontrolle und werden nur in Ausnahmefällen zur Rechenschaft gezogen - unabhängig von ihrer Hautfarbe. Garner wurde vorgeworfen, illegal einzelne Zigaretten zu verkaufen - wahrlich keine Tat, die einen solchen Gewaltexzess rechtfertigen kann.

Millionen Schwarze und Latinos fühlen sich ständig schikaniert

Die Entscheidung in Staten Island führt zu noch mehr jener Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus, die durch den Tod von Michael Brown in Ferguson ausgelöst wurden. Wenige Stunden später legen sich junge und alte Menschen in vielen US-Städten auf den Boden. Die landesweiten Demonstrationen werden auch deshalb noch lange weitergehen, weil Millionen Menschen genau dieses Gefühl kennen - vor allem die Schwarzen und Latinos.

Jeder, der einige Hollywood-Filme gesehen oder jenseits des Atlantiks im Urlaub war, weiß, dass Polizisten in den USA anders agieren als in Europa. Sie zeigen demonstrativ ihre Waffen und machen durch ihren aggressiven Ton klar, wer das Sagen hat. Auch als Weißer, egal ob Amerikaner oder Europäer, ist man froh, wenn man keinen Kontakt mit den Cops hat. Doch die - bis auf zwei Ausnahmen - friedlichen Proteste in Ferguson zwingen immer mehr Weiße, sich damit auseinanderzusetzen, dass die Polizei bei Minderheiten weiter geht und sie oftmals regelrecht drangsaliert.

In Ferguson berichten Schwarze aus ihren Alltagserfahrungen: Mütter wie Pamela Wilson haben Angst vor dem 16. Geburtstag ihres Sohnes, weil dieser dann den Führerschein machen und häufiger in Polizeikontrollen geraten kann. Auch Tommie Pierson, der 68-jährige Priester einer Kirche in Ferguson und Abgeordneter in Missouris Repräsentantenhaus, wird ständig in seinem Auto angehalten - nicht wegen Verkehrsdelikten, sondern wegen seiner Hautfarbe. Er ist überzeugt: "Polizeibeamte in Amerika sind außer Kontrolle, egal ob sie weiß oder schwarz sind. Sie können dich töten, ohne bestraft zu werden - und sie wissen das."

Auch Cornell Brooks, der Präsident der NAACP, der ältesten Schwarzen-NGO des Landes, wird regelmäßig in seinem Auto kontrolliert - und der 53-jährige Jurist fürchtet auch, dass seine Söhne im Teenager-Alter Opfer von racial profiling werden.

Bei aller - mitunter berechtigten - Kritik an der Medien-Berichterstattung über Ferguson: Seit Wochen wird so intensiv über Rassismus und Polizeiarbeit in den USA diskutiert wie seit langem nicht mehr. Es sind gerade die meist mit Mobiltelefonen aufgenommenen Videos, die Weißen einen Eindruck davon geben, wie sich die Officer in vielen Stadtvierteln verhalten - bevor Garner zu Boden gerissen wird, klagt der Mann, den sie "Big E" nannten, über die täglichen Schikanen.

Auch Polizisten müssen für ihre Fehler geradestehen

Egal ob in einzelnen Gesprächen oder bei Anhörungen vor der neuen "Ferguson Commission": Alle Schwarzen wünschen sich nicht weniger Polizisten in ihrer Nachbarschaft, sondern eine andere Polizei. Die Beamten sollten die Gegend kennen und nicht aus Angst um ihr Leben sofort die Waffe ziehen. Fast noch wichtiger scheint es vielen Afroamerikanern aber, dass sich die Polizisten für ihr Handeln verantworten müssen und für Fehler bestraft werden - genau wie sie als Bürger auch Strafen zu befürchten haben. Dies ist die eigentliche Botschaft hinter dem seit August ständig zu hörenden Ruf "Justice for Mike Brown" steht.

Dass selbst der Videobeweis nicht ausreichte, den würgenden Officer aus Staten Island anzuklagen, sorgt landesweit für Wut - und weckt auch Zweifel an der Initiative Obamas, 60 Millionen Euro für den Kauf von Körperkameras bereitzustellen. Denn was nützen Aufnahmen, wenn die Rechtslage eine Verurteilung nahezu unmöglich macht?

In vielen Online-Kommentaren fragen sich Amerikaner zu Recht: Wie kann es sein, dass die beiden Polizisten keine Konsequenzen zu befürchten haben, obwohl sie für den Tod eines Mitmenschen verantwortlich sind? Und dass gleichzeitig die Staatsanwaltschaft in Missouri prüft, den Stiefvater von Michael Brown anzuklagen, weil dieser nach Bekanntwerden der Jury-Entscheidung ausrief "Brennt die Scheiße nieder"?

Die Antwort ist einfach: Die Gesetze geben den Cops weitreichende Rechte. Der Oberste Gerichtshof hat mehrmals entschieden, dass Polizisten ihre Waffe einsetzen dürfen, wenn sie entweder um ihre eigene Sicherheit fürchten oder einen flüchtenden Straftäter stoppen wollen. Erst im Mai 2014 urteilten die neun Richter in einer Klage gegen Polizisten aus Arkansas und Tennessee, dass von "exzessiver Gewalt" keine Rede sein könne, obwohl die Beamten 15 Kugeln in das Auto der Flüchtenden abfeuerten und dabei zwei Menschen töteten. Die Entscheidung fiel einstimmig - also hatten auch die vier liberalen Richter nichts einzuwenden.

Die jetzt gültigen Gesetze wurden über Jahre und Jahrzehnte verschärft - den Vorwurf, nicht hart gegen Kriminelle vorzugehen, will kaum ein US-Politiker riskieren. Die Proteste der Aktivisten, die vor dem Hauptquartier der Polizeigewerkschaft oder in Einkaufszentren Lieder wie "Hey hey, ho ho, these killer cops, they've got to go" ("Diese Killer-Cops müssen verschwinden") singen, sorgen kurzzeitig dafür, dass Medien weiterhin berichten und sich die Clips via Facebook und Twitter verbreiten.

Um aber wirklich etwas zu ändern, muss sich die Bewegung bald darum kümmern, den mühsamen politischen Weg zu bestreiten. Die Aktivisten müssen Abgeordnete in Washington finden, die neue Gesetze verabschieden, die neue Schwerpunkte in der Polizei-Ausbildung setzen, strengste Grenzen für den Einsatz von Gewalt festlegen und bei tödlichen Polizeieinsätzen einen unabhängigen Ermittler vorschreiben.

Nur so lassen sich die Gesetzeshüter aus dem rechtsfreien Raum herausholen und das Vertrauen vieler Bürger in den Rechtsstaat erhöhen - unabhängig von Hautfarbe und Herkunft.

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