Polizeichef vor Gericht:Ein Verfahren, in dem nichts privat bleibt

Polizeichef vor Gericht: Ein Polizeichef als Angeklagter vor der Richterbank: Der inzwischen suspendierte Inspekteur der Polizei in Baden-Württemberg kommt mit seiner Anwältin in den Gerichtssaal.

Ein Polizeichef als Angeklagter vor der Richterbank: Der inzwischen suspendierte Inspekteur der Polizei in Baden-Württemberg kommt mit seiner Anwältin in den Gerichtssaal.

(Foto: Bernd Weißbrod/dpa)

Baden-Württembergs oberster Polizist soll eine junge Kommissarin sexuell genötigt haben. Gegen den suspendierten Inspekteur der Landespolizei beginnt nun ein Prozess, der viele intime Details ausbreitet - und dessen Ausgang auch für einen Politiker brenzlig werden könnte.

Von Annette Ramelsberger, Stuttgart

Hier geht es für beide um alles. Um die Ehre, um die Zukunft, um den Beruf, um die Pension. Ein Mann und eine Frau. Ein Vorgesetzter und seine Untergebene. Der ranghöchste Polizist in Baden-Württemberg und eine kleine Hauptkommissarin. Er, der Mann, der für die Führungskultur in der Polizei stand und in der Prüfungskommission für den höheren Dienst saß. Sie, die endlich die Prüfung für den höheren Dienst bestehen wollte, es war schon ihr zweiter Anlauf. Und dann trafen sich die beiden in einer Kneipe in Stuttgart. Seit einem Jahr wird dieser Kneipenabend heiß diskutiert in Baden-Württemberg. Und alles, was daraus erwuchs, ist längst ein Politikum.

Die Frage, die das Landgericht Stuttgart nun beantworten muss, ist diffizil: Fingen da morgens um 3 Uhr nach viel Alkohol nur ein Mann und eine Frau an zu knutschen? Oder stehen da ein Täter und sein Opfer? Oder gar eine Täterin und ihr Opfer? Ein Mann, der ausnutzte, dass sich die Frau ihm nicht widersetzen konnte, ihm, dem großen Chef. So sieht es die Staatsanwaltschaft. "Er veranlasste sie zur Duldung und Vornahme sexueller Handlungen und nutzte bewusst aus, dass er ihr bei einer Weigerung berufliche Nachteile bereiten konnte", sagt Staatsanwältin Stefanie Ruben. Als sie die Anklage verlesen hat, weiß man mehr über diesen Mann, als man je wissen wollte. Sogar, welche Dinge er für sexuell erregend hält.

Man erfährt sehr viel über den Mann, aber auch über die Frau

Gleich wird man aber auch über die Frau mehr erfahren, als ihr lieb ist - selbst wenn sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit vernommen wird. Dafür sorgt die Verteidigung des Polizeichefs. Dass die 34 Jahre alte Polizistin nicht nur mit ihrem obersten Chef knutschte, sondern dass ihr Freund ebenfalls Polizist ist, älter, höherrangig, verheiratet. Diesem "Liebhaber" habe sie nach dem Abend mit Andreas R. selbst gesagt, dass sie genau gewusst habe, was sie tue, man könne nichts auf den Alkohol schieben. Verteidigerin Ricarda Lang folgert daraus, die Nebenklägerin habe "bewusst ältere, höhergestellte Männer gesucht, um die Kontakte zu ihrem eigenen Vorteil auszunutzen".

Eigentlich soll das ja alles unter Ausschluss der Öffentlichkeit behandelt werden, aber die Verteidigung teilt die für sie wichtigen Details sehr offensiv in einer Presseerklärung mit. Der Angeklagte Andreas R. hatte von vornherein gesagt, er werde um einen Freispruch kämpfen. Und seine Verteidigerin Lang erklärt: "Es gibt in diesem Fall nur ein Opfer und das ist der Angeklagte, der von lokalen Medien mit Unterstützung der politischen Opposition vorverurteilt wurde."

So geht es schon los. In diesem Verfahren wird nichts privat bleiben.

Es ist der #Metoo-Fall mit dem bisher ranghöchsten Beschuldigten in Deutschland und brenzlig für den CDU-Innenminister Thomas Strobl. Der hatte Andreas R. im Schnelldurchgang befördert und zum jüngsten Polizeiinspekteur gemacht, den es im Land je gab. Die Polizeipräsidentin ist in schrägem Licht, die das Mobiltelefon des Verdächtigen nicht sofort zur Beweissicherung beschlagnahmt hat. Dem Polizeipräsidium ruft die oppositionelle FDP hinterher, dort würden "dekadente Orgien" gefeiert.

Es gab einen Strafbefehl gegen den Innenminister

Seit eineinhalb Jahren raste die Welt im Südwesten, es gab einen Strafbefehl gegen Innenminister Strobl, der maximale Distanz zwischen sich und den so geförderten Polizisten bringen wollte - und dafür Informationen an die Presse spielte. Er musste 15 000 Euro bezahlen. Es gab Rücktrittsforderungen, und seit Monaten beschäftigt sich auch ein Untersuchungsausschuss mit der Beförderungspraxis in der Polizei.

Nun aber steht die Welt kurz still. Im überfüllten Saal 1 des Landgerichts Stuttgarts, einem sehr hässlichen 80er-Jahre-Bau, der wie alles in Stuttgart gerade umgebaut wird, soll nun die Wahrheit gesucht werden. Hier sitzt der Angeklagte Andreas R., 49, und auch seine Frau ist mitgekommen, als Beistand. Er geht durch den ganzen Saal auf sie zu und tätschelt ihre Hand, damit alle sehen, dass sie bei ihm ist. Sie streicht ihm in einer Pause kurz über den Rücken.

Wer tat was in jener Nacht im November?

Wer noch nicht da ist: die Kommissarin, die gegen Andreas R. Anzeige erstattet hat. Sie kommt erst zu ihrer Aussage, niemand bekommt sie zu sehen. Ihr Anwalt will sie schützen, er sagt, wenn ihr Name bekannt werde, erleide sie irreversible Nachteile. Die Frau arbeitet weiter als Polizistin. Nur das Ziel, in den höheren Dienst zu kommen, hat sie aufgegeben.

Drinnen im Saal geht es nun um das, was geschehen ist in jener Nacht des 13. November 2021. Wie die junge Kommissarin ins Polizeipräsidium kam, zu einem Coaching-Gespräch mit dem Inspekteur. Wie schon da Sekt getrunken wurde. Wie man weiterzog mit anderen Kollegen, und Kommissarin und Chef dann noch zu einem Absacker fuhren, in die Kneipe "The Corner", wo der Polizeichef offenbar immer wieder mit Frauen auftauchte. Zwei Stunden sollen Andreas R. und die Kommissarin an einem Tisch gesessen haben, rund um sie andere Kneipenbesucher.

Weil die Ermittlungsdetails durchgestochen wurden, konnte man schon vor dem Prozess lesen, dass es ein dreistündiges Video gibt, auf dem man sieht, wie der Vorgesetzte beginnt, der jungen Frau über die Wange zu streicheln, wie sie nur kurz den Kopf wegdreht, dann küssen sie sich lange und immer wieder. Sehr vertraut sieht die Szene aus. Dabei soll er auch über seine sexuellen Vorlieben gesprochen haben. Dann gingen beide kurz raus auf die Straße - und dabei soll es zu dem Übergriff gekommen sein. Andreas R. erklärt, die Frau habe ihn im Intimbereich angefasst. Sie sagt, er habe sie überrumpelt und dazu genötigt. Die Staatsanwaltschaft hält die Kommissarin für glaubwürdig. Die Verteidigung sagt, die Frau habe "eigeninitiativ" zahlreiche intime Handlungen ausgeübt.

Was schon am ersten Tag klar ist: In diesem Prozess wird es nicht um Rücksicht, Diskretion oder einen respektvollen Umgang miteinander gehen, wie es sich die Nebenklage wünschte - es geht nur um den Sieg.

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