Polizeiarbeit:Das Zittern der Zeugen

Ein abgerissener Fuß, ein Vater, der sein sterbendes Mädchen im Arm hält: der Anschlag wühlt Opfer und Helfer bis heute auf.

Von A. Ramelsberger und K. Riedel

Mario Huber ist 45 Jahre alt. Als das Attentat auf der Münchner Theresienwiese geschah, war er gerade mal elf. Er erinnert sich noch, wie aufgeregt seine Eltern damals waren, wie Verwandte und Nachbarn tagelang über nichts anderes redeten als über die Bombe vom Oktoberfest. Doch der Täter war ja tot, der Fall abgeschlossen. Nie hätte sich Huber träumen lassen, dass er mal mit dem Attentat zu tun bekommt. Nun ist er der Leiter der Soko "26. September" und erlebt, dass dieses Attentat, das jetzt genau 35 Jahre her ist, bis in die Gegenwart wirkt. Dass es da ist, in den Köpfen, in den Seelen. Selbst bei denen, die nicht schwer verletzt wurden.

Endlich können die Menschen reden, die Ermittlung wirkt wie eine Wiedergutmachung

Anfangs wollten die Polizisten der Soko die Zeugenvernehmungen noch durchtakten, zwei, drei Zeugen an einem Tag, so hatten sie sich das vorgestellt. Dann saßen vor ihnen keine Zeugen, sondern Opfer - auch unter den Helfern. Menschen, die nach wenigen Fragen in Tränen ausbrechen - obwohl alles 35 Jahre her ist. Gestandene Männer, die zu zittern anfangen. "Das Attentat sitzt fest in ihnen drin", sagt Mario Huber. "Selbst Mannsbilder, von denen ich weiß, die haben auch später noch Leichen gesehen, sind zum Teil schwer traumatisiert." Die Soko hat sich dann von Psychologen beraten lassen. Seitdem laden sie nur noch einen Zeugen am Tag, jeder soll Zeit bekommen, sich ja nicht gehetzt fühlen. Und die Zeugen reden, oft drei, vier Stunden. Endlich hört ihnen jemand ernsthaft zu. Die Ermittlung wirkt wie eine psychologische Wiedergutmachung. Das ist nicht ihre Aufgabe, beteuern die Polizisten. Doch dass sie die Menschen reden lassen, dass die Zeugen all das, was sie an demütigenden Schriftwechseln mit Sozialämtern und Krankenkassen erlebt haben, die sie behandelt haben, als hätten sie ihre Beschwerden nur vorgetäuscht, dass sie das nun einer staatlichen Stelle erzählen können, das hat einen Effekt. Alles wird akribisch zu Protokoll genommen. Es wird Teil der Akten. Und diese Akten sollen am Ende zeigen, dass die Opfer und dass der Anschlag ernst genommen werden.

Mittlerweile erleben die Polizisten selbst, wie ihnen die Bilder des Anschlags nahegehen. Wenn sie mit den Zeugen reden, sehen sie immer wieder die Fotos vom Tatort, den abgerissenen Fuß mit den lackierten Nägeln, den Vater, der sein kleines Mädchen in den Armen hält. Und dessen Tränen, die auf die Wangen des sterbenden Kindes tropfen. Das Gift des Terrors entfaltet auch nach 35 Jahren noch seine Wirkung.

Fast ein Menschenleben her ist diese Zeit, eine Zeit, in der Franz Josef Strauß gegen Helmut Schmidt antrat im Kampf um die Kanzlerschaft, in der es noch um Freiheit oder Sozialismus ging - so lautete damals der Wahlkampfslogan der Union. Diese Zeit kennen auch viele Ermittler nur noch aus den Geschichtsbüchern. Nun fräsen sie sich durch die alten Akten, und die Zeit ist plötzlich ganz nah.

Alle Mitglieder der Sonderkommission haben sich freiwillig gemeldet. Sie wissen, dass die Ermittlung lange dauern kann und vielleicht kein handfestes Ergebnis bringen wird. "Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit", sagen alle, selbst beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe. Sie wollen klären, was noch zu klären ist. Ob sie je einen Hintermann finden, weiß bisher niemand.

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