Süddeutsche Zeitung

Polizei und Social Media:Beruhigen und warnen

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Die Polizei steckt bei ihrer Informationspolitik in einem Dilemma: Sie muss die Öffentlichkeit zur Vorsicht mahnen und zugleich Panik verhindern. Doch sie hat aus dem Münchner Amoklauf gelernt.

Von Thierry Backes und Martin Bernstein

Die Polizeipräsidien in Berlin und München sind seit mehr als zwei Jahren in Deutschland führend, was die Nutzung sozialer Medien angeht - und tauschen sich regelmäßig über ihre Erfahrungen aus. Es ist eine schlimme Ironie des zu Ende gehenden Jahres, dass beide das im Ernstfall unter Beweis stellen mussten - die Münchner Polizei beim Amoklauf des 18-jährigen David S. im Juli, die Berliner Polizei nach dem Anschlag vom Montag.

Am 22. Juli erschießt David S. neun Menschen am und im Münchner Olympia-Einkaufszentrum am nördlichen Stadtrand. Wenig später herrscht Chaos in der Innenstadt. Polizeihubschrauber kreisen über dem Hauptbahnhof, Beamte in schwerer Montur riegeln den Karlsplatz ab, im Hofbräuhaus bricht Panik aus. Aus dem Amoklauf eines Einzelnen ist in den sozialen Medien ein Terroranschlag mit mehreren Zielen geworden. Die Münchner Polizei - insbesondere ihr Sprecher Marcus da Gloria Martins - ist dafür gefeiert und mehrmals preisgekrönt worden, die Menschen in dieser Nacht vorbildlich informiert zu haben. Das ist aber nur der eine Teil der Wahrheit. Wer sich die Tweets und Facebook-Posts der Münchner Beamten in den ersten beiden Stunden nach dem Amoklauf genau anschaut, der stellt fest: Die Polizei hat es damals nicht unbedingt geschafft, die vielen Gerüchte zu entkräften.

Nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz hat die Berliner Polizei die Fakten, so schnell sie konnte, selbst verbreitet, hat die ganze Nacht verlässlich auf Deutsch und auf Englisch via Twitter informiert. Sie hat - und das ist entscheidend - die Informationshoheit über den Anschlag behalten. Die Berliner Polizei tat alles dafür, Gerüchten keine Chance zu geben. Mehr noch: Der Twitter-Account @PolizeiBerlin_E wurde im Laufe des Abends auch für Medien eine der wichtigsten Informationsquellen. Wer aktuelle Details über den Anschlag haben wollte, musste sich hier informieren.

Die Lage beim Amoklauf in München und die Situation vom Montagabend in Berlin sind nicht direkt vergleichbar. In München glaubten Augenzeugen, in zwei Zivilbeamten Attentäter "mit Langwaffen" erkannt zu haben, es gingen unzählige Notrufe über Schießereien am Stachus und an angeblich 70 weiteren Orten im ganzen Münchner Stadtgebiet ein. Aus der heutigen Perspektive betrachtet, wirkte die Münchner Polizei zunächst überfordert: Sie dementierte auf den eigenen Accounts die Falschmeldung von der Schießerei am Stachus nicht, sie blieb sehr lange bei der beunruhigenden Einschätzung, man fahnde nach "bis zu drei Tätern", sie kommunizierte den Suizid des Amokläufers erst sehr spät. Die Berliner Polizei hingegen hinterließ am Montagabend den Eindruck, alles im Griff zu haben. Sie trat zwei Stunden nach dem Anschlag beruhigend auf. Allerdings um den Preis, nichts von der Flucht des mutmaßlichen Täters zu schreiben. Einen Tag später ist klar, dass der Fahrer des Lastwagens entgegen ursprünglicher Meldungen auf freiem Fuß ist. Am Dienstagmittag, 17 Stunden nach dem Anschlag, twitterte die Berliner Polizei: "Der festgenommene Tatverdächtige streitet derzeit die Tat am Breitscheidplatz ab. Wir sind daher besonders wachsam. Seien Sie es bitte auch." Und einige Stunden später muss die Bundesanwaltschaft einräumen, dass sie den falschen Mann hatte, sie ließ den Verdächtigen frei. Beruhigend ist das nicht. Möglicherweise, weil die Wirklichkeit eben beunruhigend ist.

Die Münchner Polizei stand im Juli vor dem Problem, lange nicht zu wissen, womit sie es zu tun hatte. Zwar war ebenfalls nach gut zwei Stunden ein Mann gefunden worden, der sich vor den Augen der Polizei erschoss - der später als Amokläufer identifizierte 18-Jährige. Es dauerte jedoch weitere drei Stunden, ehe der Tote untersucht wurde. So lange hatten Sprengstoffexperten des Landeskriminalamts gebraucht, um sich der Leiche zu nähern. Man hatte befürchtet, der Rucksack des Mannes könnte eine Sprengfalle enthalten.

Die Polizei hat in den vergangenen Monaten viel gelernt im Umgang mit Social Media. Sie hat vor allem erkennen müssen, dass die in den Polizeilehrbüchern festgeschriebene klare Trennung zwischen einer Terrorlage und einer Amoklage in den ersten Stunden oft gar nicht vorzunehmen ist. Und sie hat verstanden, welche Wirkung Mitteilungen in sozialen Netzwerken entfalten und wie sie diese nutzen kann. Bis Ende 2017 sollen alle bayerischen Polizeipräsidien Facebook und Twitter nutzen. Im Münchner Präsidium denkt man bereits darüber nach, künftig auch Cell Broadcast zu nutzen - SMS-Mitteilungen an alle Handynutzer im Bereich einer bestimmten Funkzelle. Die Berliner Polizei wiederum hat am Montag eine Nummer für Hinweise und eine Hotline für Angehörige verbreitet, auf den Facebook Safety-Check verwiesen und - wie die Münchner Kollegen im Juli - ein Portal eingerichtet, über das Augenzeugen Bilder und Videos von der Tat hochladen können. Jetzt müssen die Menschen mit ihren Handykameras nur noch lernen, im Notfall Verletzten zu helfen, statt Videos von ihnen zu drehen.

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Quelle:
SZ vom 21.12.2016
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