Machtmissbrauch durch Polizisten:Warum sich die Polizei selbst zu überschätzen droht

Wache Bundespolizei-Inspektion Hannover

"Das ist ein Marokkaner. Den habe ich weiß bekommen", hat der Beamte unter Folterverdacht gespottet. Blick auf die Bundespolizeiinspektion Hannover.

(Foto: Julian Stratenschulte/dpa)
  • Nachdem bekannt wurde, dass die Staatsanwaltschaft Hannover gegen einen Beamten ermittelt, weil dieser Flüchtlinge misshandelt haben soll, diskutieren Experten über Polizeiarbeit.
  • Strafrechtsprofessoren und Kriminologen kritisieren eine mangelhafte Fehlerkultur bei der Polizei.
  • Sie fordern eine bundesweite Kennzeichnungspflicht für Polizisten, externe Polizeibeauftragte, ein Sozialpraktikum für Beamte sowie die Möglichkeit einer straflosen Selbstanzeige.

Von Thomas Hahn und Philipp Schulte

Der Kriminologie-Professor Rafael Behr muss immer wieder feststellen, dass die Polizei mit seinen kritischen Gedanken wenig anfangen kann. Die Polizei-Gewerkschaft GdP hat sogar mal Flugblätter drucken lassen, auf denen sie ihm eine "akute Profilneurose" unterstellte, "Respektlosigkeit" sowie "Ahnungslosigkeit". Behr, einst selbst Polizist, mittlerweile Dekan des Fachhochschulbereichs an der Hamburger Polizei-Akademie, hat damals einen langen Antwortbrief geschrieben, den die GdP selbst veröffentlichte. Trotzdem weiß Behr nicht recht, ob die Vertreter der Polizei flächendeckend verstanden haben, dass Kritik nicht immer gleich die ganze Institution infrage stellt.

Insofern ist der Professor nicht sehr guter Hoffnung, dass er bei den zuständigen Stellen etwas bewirkt, wenn er aus gegebenem Anlass und durchaus auch selbstkritisch anmerkt, dass die Polizistinnen und Polizisten besser vorbereitet sein müssten auf ihren wichtigen Dienst im deutschen Alltag. "Wir bilden generell für die Praxis der Polizei aus", sagt Rafael Behr, "aber nicht für die Zivilgesellschaft."

Die erste Aufregung hat sich gelegt, seit der NDR vor knapp zwei Wochen darüber berichtet hat, dass die Staatsanwaltschaft Hannover gegen einen Bundespolizisten der Dienststelle am Hannoveraner Hauptbahnhof ermittelt, weil er im Frühjahr und Herbst 2014 Flüchtlinge misshandelt haben soll. Die Zeugenvernehmungen laufen, viel mehr kann Thomas Klinge, Sprecher der Staatsanwaltschaft, gerade nicht berichten. Zumal man noch auf der Suche nach dem Afghanen und dem Marokkaner sei, die Opfer des verdächtigten Beamten Torsten S., 39, geworden sein sollen.

"Das ist ein Marokkaner. Den habe ich weiß bekommen", hieß es in einer SMS

Aber die Debatte über die Polizeiarbeit geht weiter. Sie muss weitergehen, denn die Geschichte, die zwei Beamten mit ihrer Anzeige an die Öffentlichkeit gebracht haben, ist heftig. Und sie bestätigt auf beklemmende Weise, was Kriminologen und Polizeibetrachter schon seit Langem sagen: Dass sich das Thema Polizeigewalt nicht mit ein paar schnellen Thesen vom durchgeknallten Einzeltäter abhandeln lässt, sondern dass es komplex ist und auf ein strukturelles Problem hinweist.

SMS und WhatsApp-Nachrichten soll Torsten S. verschickt haben, in einer hieß es: "Das ist ein Marokkaner. Den habe ich weiß bekommen. XY (der unmittelbare Vorgesetzte, Anm. d. Red.) hat gesagt, dass er ihn oben gehört hat, dass er geqikt hat, wie ein Schwein." Mehrere Beamte und der Vorgesetzte in der Dienststelle scheinen den Vorfall gedeckt zu haben. Laut NDR bezeugte ein anonymer Insider außerdem irritierende Spielchen mit der Dienstwaffe durch S. im Beisein von Kollegen.

Der Chef der Bundespolizei lobt die "große interkulturelle Kompetenz" seiner Leute

Die Polizei verkörpert das staatliche Gewaltmonopol - da müssen sich die Bürger sicher sein, dass keiner ihrer Vertreter seine Macht missbraucht. Der Fall Torsten S. macht sie misstrauisch, und er wirft die Grundsatzfrage auf: Was kann man ändern, damit die Polizei im Sinne der Menschen zuverlässig funktioniert?

Es könnte schon helfen, wenn man nicht den Eindruck hätte, dass die Polizei vor dem Rechtsstaat eine Sonderrolle einnimmt. 2013 mündeten 20 Prozent der insgesamt 4,5 Millionen Ermittlungsverfahren in Deutschland in eine Anklage oder einen vergleichbaren Strafbefehl, etwa 30 Prozent wurden mangels Tatverdacht eingestellt. Von den 4553 Ermittlungsverfahren gegen Polizisten in diesem Zeitraum wurden fast 90 Prozent mangels Tatverdachts eingestellt. Ist diese hohe Einstellungsquote wirklich nur eine Folge von Strafanzeigen gegen Beamte, die "sehr oft zu Unrecht gestellt werden", wie der GdP-Vorsitzende Oliver Malchow meint?

Der Berliner Strafverteidiger Peer Stolle rät seinen Mandanten nur in Fällen grober Misshandlungen zu einer Anzeige gegen Polizisten. Denn: "Wer einen Polizisten nach einem Übergriff anzeigt, muss fast immer mit einer Gegenanzeige wegen Widerstands und falscher Verdächtigung rechnen."

Für den Berliner Strafrechtsprofessor und Kriminologen Tobias Singelnstein sind die Zahlen wiederum Ausdruck einer mangelhaften Fehlerkultur bei der Polizei. Um die Aufklärung zu erleichtern, findet er, ebenso wie Amnesty International, eine bundesweite Kennzeichnungspflicht für Polizisten wichtig.

Statistik

30 Prozent aller Verfahren gegen Bürger werden eingestellt - bei Polizisten sind es 90 Prozent.

"Die Fälle werden so protokolliert, dass kein Angriffspunkt mehr bleibt"

Und Rafael Behr sagt zum Umgang der Polizei mit Vorwürfen und Bürger-Anzeigen: "Es gibt das übliche Verfahren des Rundschreibens, das heißt: die Fälle werden so protokolliert, dass kein Angriffspunkt mehr bleibt. Das passiert im Polizeialltag nicht nur im Bereich von Straftaten, sondern zum Beispiel auch, wenn es bei Verkehrsunfällen mit Dienstfahrzeugen um die Frage der Fahrlässigkeit und staatliche Regressforderungen gegen den Beamten geht."

Das deutsche Gesetz macht es den Beamten aber auch nicht leicht. Wer als Polizist ein Fehlverhalten des Kollegen nicht sofort meldet, kann sich wegen Strafvereitelung im Amt strafbar machen. Da kann man schon verstehen, dass Beamte lieber ganz den Mund halten, wenn jemand auf der Dienststelle über die Stränge schlägt. Bundespolizei-Präsident Dieter Romann hat deshalb angekündigt, eine interne Beschwerdestelle einzuführen. Manche Bundespolitiker antworteten: Das reicht nicht. Auch Rafael Behr fordert einen externen Polizeibeauftragten, der nach dem Vorbild des Wehrbeauftragten dem Bundestag unterstellt ist. Und er schlägt die Möglichkeit einer straflosen Selbstanzeige für Polizisten vor, die sich erst mal darüber klar werden mussten, ob sie den Kollegen anzeigen wollen: "Eine Art Kronzeugenregelung."

Und dann ist da eben die Frage, ob viele Polizisten überhaupt gut genug vorbereitet sind auf die schwierige Aufgabe, mit Menschen der verschiedensten Temperamente und Kulturen umzugehen. "Eigentlich müssten da die Besten hin", sagt Behr. Aber das gibt das Polizeisystem nicht her. Mittlere Reife oder ein Hauptschulabschluss mit Berufsausbildung sind die Zugangsvoraussetzungen für den sogenannten mittleren Dienst, ab dem gehobenen Dienst Abitur, dazu sportliche Fähigkeiten, ein sauberes Vorstrafenregister und eine Gesinnung, die zumindest nicht direkt rassistisch ist. "Wir erwarten keine Kompetenzen von den angehenden Polizisten, sondern Eignungen", sagt Behr, "da liegt das Manko." Und der erfolgreichen Bewerbung folgt eine Ausbildung von bis zu drei Jahren, in welcher der Nachwuchs viel hört, aber wenig übt. "Man lernt viel theoretisch, sicher auch mal praktisch im Bereich der Körperertüchtigung", sagt Behr, "aber sehr wenig über Gesellschaft."

Polizisten sind auch so etwas wie Sozialarbeiter

Ein Sozialpraktikum würde er angehenden Polizisten empfehlen, damit sie mit ihren Vorstellungen von der Macht der Uniform auf dem Boden der gesellschaftlichen Wirklichkeit blieben. "Polizisten verfahren nach dem Erlkönig-Prinzip: Bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt." Sozialarbeiter verfahren ganz anders, und weil Polizisten in manchen Situationen auch so etwas wie Sozialarbeiter sind, leuchtet es dem Wissenschaftler Behr nicht ein, warum die Polizeiausbildung das nicht besser aufgreift. "Die Polizei wäre gut beraten, ihre Strategie völlig zu verändern", sagt er.

Ob sie das tut? Bundespolizei-Präsident Romann lobt die "große interkulturelle Kompetenz" seiner 40 000 Mitarbeiter. GdP-Chef Malchow sagt zu neuen Ausbildungsstandards etwas wolkig: "Im Falle kollegialen Fehlverhaltens darf kein falsches Verständnis von Loyalität entstehen. Das muss in Aus- und Fortbildung immer und immer wieder intensiv vermittelt werden." Einen Polizeibeauftragten lehnt die GdP glatt ab, eine Kronzeugen-Regelung ebenso. "Wir sind der Auffassung, dass bereits bestehende, erfolgreich arbeitende und akzeptierte Institutionen wie Personalräte, Gleichstellungsbeauftragte und Anti-Mobbingkommissionen als entsprechende Anlaufstellen genutzt werden können - und auch sollten."

Die Polizei will sich demnach selbst reinigen. Rafael Behr seufzt und findet dafür im Grunde nur ein griechisches Wort: "Hybris." Selbstüberschätzung.

Angriffe auf Polizisten nehmen zu

Die Zahl der Angriffe auf Polizisten in Deutschland ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Nach 48 752 Straftaten im Jahr 2011 habe die Gesamtzahl im vergangenen Jahr 55 738 betragen. Das geht laut Bild am Sonntag aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage der hessischen CDU-Bundestagsabgeordneten Erika Steinbach hervor. Die Zahl der Mordversuche habe sich in dem Zeitraum von 22 auf 59 mehr als verdoppelt. Hessen will mit einer Gesetzesinitiative im Bundesrat Angriffe auf Polizisten und Rettungskräfte Hessens härter bestrafen.

Quelle: dpa

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: