Polizei räumt Demonstration gegen Stuttgart 21:Ich blockiere hier und kann nicht anders

Nach viereinhalb Stunden ist alles vorbei: Knapp 2000 Beamte räumen in der Nacht auf Freitag eine Demo gegen Stuttgart 21 - der Weg für den Abriss des Südflügels ist frei. Die Aktion verläuft friedlich, obwohl Teile der Protestbewegung vehement versuchen, Aggressionen zu schüren. Es zeigt sich das Problem der verbliebenen S21-Gegner: Sie kämpfen schon so lange, sie können nicht mehr anders.

Michael König

Zu den vielen denkwürdigen Momenten in der Geschichte des Protests gegen Stuttgart 21 gehört Heiner Geißlers Fauxpas am 29. Juli. Eigentlich sollten im Stuttgarter Rathaus die Ergebnisse des Stresstests verkündet werden. Doch wieder ufert die Diskussion aus, sitzen sich Gegner und Befürworter des 4,1 Milliarden Euro teuren Projekts unversöhnlich gegenüber. Die eine Seite spricht vom zügigen Weiterbau, die andere von Manipulation. Schließlich verliert Geißler die Nerven und ruft: "Wollt ihr den totalen Krieg?"

Stuttgart 21 - Räumung Südflügel

Der nächste Schritt in Richtung Tiefbahnhof: Polizisten räumen eine Demonstration von Stuttgart-21-Gegnern in Stuttgart. Der Weg für den Abriss des Südflügels ist frei.

(Foto: dpa)

Damals zeigten sich die S21-Gegner entrüstet ob des Goebbels-Zitates. Wer jedoch sechs Monate später, in der Nacht von Donnerstag auf Freitag, die Diskussion über den Polizeieinsatz am Stuttgarter Hauptbahnhof auf Twitter verfolgte, wurde nachdenklich ob einer möglichen Antwort auf Geißlers Frage.

Gegen drei Uhr nachts hatte die Polizei begonnen, die Demonstration von S21-Gegnern am Südflügel zu räumen. Knapp 2000 Beamte trafen auf 600 Demonstranten. Um 7:30 Uhr war die Aktion beendet. Es gab zwei Festnahmen. Alles blieb friedlich. Das war ein Erfolg für die Polizei. Das war eher nicht der Verdienst der Scharfmacher im Netz.

"Cop-Terror" der "Bürgerkriegspolizei"

Der S21-Gegner und ehemalige Bundestagsabgeordnete Jörg Tauss schrieb beim Internet-Kurznachrichtendienst Twitter von der Stuttgarter "Bürgerkriegspolizei". Ein User fragte sich, wo der Schauspieler und Widerstands-Wortführer Walter Sittler sei. "An der Widerstands 'Front'? Wenn nicht, ist das eine Granatensauerei." Auch von "Cop-Terror" war die Rede. Er werde so schnell wie möglich ins "Krisengebiet" kommen - gleich nach der Dusche und dem Frühstück, schrieb einer. Ein anderer schlug vor, "Züfles Truppe" solle nach Afghanistan geschickt werden und dort "die Taliban anmachen".

Polizeipräsident Thomas Züfle, einst Aufbauhelfer für die afghanische Polizei, hatte seinen Beamten eingebläut, ruhig zu agieren und "defensive Handlungsalternativen" zu prüfen. "Wir wollen Ruhe und Besonnenheit im Einsatzraum. Nur das führt zu Deeskalation", betonte er. Die Polizei informierte via Twitter über ihr Vorgehen. Pressevertreter wurden eingeladen, den Einsatz aus nächster Nähe zu begleiten. Auf Wasserwerfer war bewusst verzichtet worden. Bilder wie jene vom 30. September 2010, dem "Schwarzen Donnerstag", als mehr als 100 Demonstranten und Polizisten im Schlossgarten verletzt worden waren, sollten unbedingt verhindert werden.

Parkschützer lehnt Handschlag ab

Die Strategie ging auf - zumindest zu großen Teilen. Die Gewerkschaft Verdi kritisierte die bevorzugte Behandlung einiger Medien durch die Polizei. Sie verstoße gegen den Grundsatz des freien Zugangs zu einem Ort des Geschehens. Matthias von Herrmann, Sprecher der S21-Gegnergruppe "Parkschützer", sprach von einem "massiven" Einsatz der Polizei.

Züfle und Herrmann waren sich am Rande des Einsatzes begegnet und hatten Respektsbekundungen ausgetauscht - angesichts der bisher recht feindseligen Haltung vieler Parkschützer gegen die Staatsgewalt ein beachtlicher Vorgang. Als der Polizeipräsident dem Aktivisten die Hand reichte, lehnte dieser jedoch ab. "Das kommt nicht gut an bei der Bewegung", sagte Herrmann nach Angaben der Nachrichtenagentur dpa. Züfle soll ihn daraufhin einen "Feigling" genannt haben. Womit das Dilemma der hartnäckigen S21-Gegner treffend beschrieben wäre.

Übergewicht auf der Hardliner-Seite

Der Protest gegen das Bahnprojekt lebte lange von seiner heterogenen Zusammensetzung: Jugendliche und Rentner, CDU-Stammwähler und Linke, Professoren und Bauarbeiter demonstrierten gegen Stuttgart 21. Aber mit jeder Niederlage, die die Gegner hinnehmen mussten, verschob sich das Verhältnis innerhalb der Gruppe. Die moderaten Kräfte wurden erst leiser und dann weniger, die Hardliner gewannen die Oberhand.

Das führte dazu, dass die Gegner mehr und mehr als Realitätsverweigerer wahrgenommen wurden. Als der Stresstest zugunsten von S21 ausfiel, war schnell von Manipulation die Rede. Als sich bei der Volksabstimmung am 27. November eine überraschend deutliche Mehrheit von 58,9 Prozent der Baden-Württemberger für den Weiterbau aussprachen, beharrten die Gegner darauf, es sei lediglich über die Finanzierung des Landes abgestimmt worden. Nicht über das Projekt an sich.

Protest als politische Existenzberechtigung

Die Folgen waren verheerend. Berechtigte Zweifel an dem Vorgehen der Bahn und die Kritik an womöglich unlauteren Wahlkampfmaßnahmen der Befürworter wurden von der plakativen Sturheit überdeckt. Nach der Volksabstimmung verabschiedeten sich die Wortführer des moderaten Flügels von ihrer aktiven Rolle. Boris Palmer, der grüne Tübinger Oberbürgermeister, und Brigitte Dahlbender, lange Zeit Sprecherin des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21, zogen sich zurück.

Zurück blieben jene, bei denen viele Bürger nicht mehr sicher sind, ob sie tatsächlich noch für die Sache kämpfen. Oder nur deshalb, weil sie nicht mehr anders können. Weil der Protest womöglich längst ihr wichtigster Lebensinhalt geworden ist. Oder ihre politische Existenzberechtigung. Der Parkschützer-Sprecher von Herrmann ist so ein Fall. Der unabhängige Stuttgarter Stadtrat Hannes Rockenbauch ebenfalls.

"Dann ist Schluss mit lustig"

Rockenbauch ist durch den Protest bekannt geworden, weit über die Grenzen von Baden-Württemberg hinaus. Welcher andere Stadtrat kann das von sich behaupten? Der rothaarige junge Mann kann lange und überzeugend reden; über die anstehende Kostenexplosion, über die Merkwürdigkeiten bei der Bahn, im Rathaus und in der Landesregierung. Auch darüber, wann der Protest keinen Sinn mehr habe: wenn der Südflügel weg sei, die Bagger im Schlosspark stünden, die Tunnel gebohrt würden. Das sagt Rockenbach freilich nicht in der autorisierten Fassung des Interviews. Dort heißt es zur Frage des Aufgebens: "Wenn Stuttgart 21 verhindert ist."

Bei Twitter klingt das ähnlich. Wenn es an den Park gehe, dann sei "Schluss mit lustig", schreibt ein S21-Gegner. Ein Befürworter hält dagegen: "Die Nerven der Gegner liegen blank. Mit dem Südflügel kollabiert der Widerstand. Die Uhr tickt."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: