Süddeutsche Zeitung

Politveteran Kissinger über Weltpolitik:Die westfälischen Prinzipien des Henry K.

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In seinem neuen Buch "Weltordnung" erklärt der Realpolitiker und ehemalige US-Außenminister, warum der Westen sich mit Russland und Iran gut stellen sollte - trotz allem.

Von Franziska Augstein

Kaum ein größeres Kompliment könnte man Henry Kissinger machen, als wenn man sagte, er sei so klug wie Kardinal Richelieu. Doch, eines vielleicht: Er sei so umsichtig wie Bismarck. Der Schriftsteller Joseph Heller - er schrieb "Catch-22" - ließ in seinem Roman "Good as Gold" 1976 den Protagonisten namens Gold ganz anders denken. "Golds zurückhaltender Meinung nach würde Kissinger nicht als ein Bismarck, Metternich oder Castlereagh in die Geschichte eingehen, sondern als scheußlicher Liederling, der gern Krieg führte."

Eines wird niemand Henry Kissinger absprechen: dass er interessante Bücher schreibt. Faszinierend sind sie schon deshalb, weil die Leser zwischen den Zeilen nach Hinweisen danach suchen können, wie er, der jahrelang die oftmals ziemlich blutige amerikanische Außenpolitik mitbestimmte, die eigenen Tätigkeiten - oder Taten - im Rückblick beurteilt.

Für ein Gleichgewicht der Mächte - unter US-Führung

Sein jüngstes Buch heißt kurz "Weltordnung", auf Englisch "World Order". Das zeugt von Selbstgewissheit. Kissinger hat eine genaue Vorstellung davon, wie die Weltordnung aussehen muss: Im Prinzip sollten alle Länder sich in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten nicht einmischen; geopolitisch sei ein gut austariertes Gleichgewicht der Kräfte vonnöten; letzteres unter der umsichtigen Leitung der Vereinigten Staaten. Das Prinzip der Nichteinmischung gelegentlich zu ignorieren betrachtet Kissinger als ein notwendiges Vorrecht der USA.

Der Westfälische Friede, mit dem 1648 der Dreißigjährige Krieg beendet wurde, hatte zumindest die ersten zwei der oben genannten Regeln festgeschrieben. Kardinal Richelieu, der damals Frankreichs Politik bestimmte, hatte während des Dreißigjährigen Krieges die Theorie aufgestellt, dass der Staat, unabhängig von den Herrscherhäusern, "eine abstrakte und permanente Einheit sei": Und so sollte, schreibt Kissinger, "das berechenbaren Prinzipien folgende Nationalinteresse als Leitstern dienen".

Das "nationale Interesse" war immer schon der Leitstern des Realpolitikers Henry Kissinger. In seinem neuen Buch spricht er oftmals von den "Westfälischen Prinzipien".

Er meint, dass die Präsidenten der Vereinigten Staaten sich in ihrer Politik davon aber meistens nicht leiten ließen. Wer denkt, die sinnlosen Kriege der USA - in Vietnam, in Afghanistan, im Irak - seien auf spezifische Interessen zurückzuführen und also rational erklärbar, wird von Kissinger belehrt: Viele Präsidenten der USA hätten Politik nicht nach realpolitischen, sondern nach moralisch-idealistischen Vorstellungen betrieben. Kissinger kannte und kennt die Leute, ihm nimmt man das ab.

Als historisch bewanderter Mann erklärt er die Gegenwart der Länder, auf die er näher eingeht, auch aus der Vergangenheit. Das ergibt etliche Seiten historischer Volkshochschule. Kissinger dankt am Ende des Buches seinem Assistenten Schuyler Schouten: "Als wissenschaftlicher Mitarbeiter beeinflusst er meine geistige Tätigkeit als eine Art Alter Ego." So ein großes Lob, das unbeholfen ins Deutsche übersetzt wurde, gebührt in aller Regel einem Co-Autor.

Rückblickend bricht Kissinger über keinen seiner früheren Arbeitgeber den Stab. Was er über Richard Nixon schreibt, ist so devot und verzerrt, dass er als Quelle über dessen Amtszeit und als Quelle für seine eigene Rolle als Nixons außenpolitischer Berater nicht infrage kommt. Alle US-Präsidenten lobt er. Allerdings macht er zwei Ausnahmen: Mit Barack Obamas Politik kann er nichts anfangen (Kissinger hält es eher mit den Republikanern). Und über Woodrow Wilson - für den konnte er nicht arbeiten, weil er zu dessen Amtszeit noch nicht geboren war - hat er auch wenig Gutes zu sagen.

Intelligente Stereotypisierungen

Wilson war der Präsident, der nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die Idee vom Selbstbestimmungsrecht der Völker durchsetzte. Das führte in Europa zu großer Instabilität: Deutschland war zuvor nur, so Kissinger, "von drei Großmächten umringt gewesen" (Frankreich, Russland und Österreich-Ungarn), danach saßen auch etliche Kleinstaaten in der Umgebung - Futter für Imperialisten. "Die Tragödie des Wilsonianismus", schreibt Kissinger, "liegt darin, dass er den Vereinigten Staaten als der entscheidenden Macht des 20. Jahrhunderts eine abgehobene außenpolitische Doktrin hinterlassen hat, die historischem oder geopolitischem Realitätssinn wenig Beachtung schenkt."

Genau so hat der 2012 verstorbene marxistische Historiker Eric Hobsbawm das auch gesehen. Marxens historischer Materialismus ist dem realpolitischen Denken sehr nahe. Hobsbawm stand allerdings stets auf Seiten der Opfer der amerikanischen Außenpolitik. Hobsbawms Beispiel zeigt: Nicht jeder Freund des realpolitischen Denkens hält die Menschenrechte für nachrangig.

Kissinger, der sich mit der ganzen Welt beschäftigen muss und will, kann sich nicht überall gut auskennen. Die Geschichte dient ihm, der an der Universität Harvard gelehrt hat, auch dazu, Ordnung in das jeweils neue Chaos der Gegenwart zu bringen. Das führt zu Stereotypisierungen - in seinem Buch über China (2012) hat er das höchst erfolgreich und plausibel praktiziert: Da zeigte er, dass die Kommunistische Partei Chinas mit der konfuzianischen Tradition arbeitet und möglicherweise auch von ihr geprägt ist. Das war seinen meisten Lesern neu.

Die Neigung zu Stereotypisierungen war auch im zweiten Band seiner Erinnerungen (1982) offensichtlich. Lange nach Beendigung des Vietnamkriegs schrieb er über die Vietnamesen: "Es fehlte ihnen die Humanität ihrer laotischen Nachbarn, sie verfügten nicht über die Anmut und den Charme der Kambodschaner, sie wollten die Vorherrschaft nicht durch anziehende Eigenschaften gewinnen, sondern durch unbeugsame Entschlossenheit." Wie sich gezeigt hat, wollten die nordvietnamesischen Kommunisten gar keine Vorherrschaft gewinnen, sondern einfach in Ruhe gelassen werden. Heute hat das Land eine stabile, marktwirtschaftlich orientierte Regierung.

Ganz so holzschnittartig wie früher spricht Kissinger jetzt nicht mehr. Außerdem nimmt er sein Faible für Realpolitik zurück. Sein Buch ist zuallererst für die USA geschrieben. Er weiß, wie sehr religiöses Empfinden den politischen "Idealismus" des Landes prägt. Ihm ist das fremd, aber offenbar will er bei niemandem anecken.

Sein Rezept für die Außenpolitik der USA lautet heute: "Der auf lange Sicht beste Kurs" sei "wahrscheinlich eine Mischung aus Realismus und Idealismus". In der Tat. Wahrscheinlich hat Kissinger damit eine kluge Binsenweisheit publik gemacht: Was in der Theorie nicht zusammenpasst, wird in der Wirklichkeit zusammengekocht.

Optionen offenhalten

Die heutigen politischen Zustände kommentiert Kissinger vorsichtig. Im Hinblick auf Russland ist er vergleichsweise wagemutig: Der Zusammenbruch der Sowjetunion, schreibt er, "verschob die Akzente der Diplomatie". Amerika sei schlecht beraten gewesen, als es den Kalten Krieg "nicht als einen geopolitischen Kampf um die Grenzen der russischen Macht" betrachtete, sondern "als einen moralischen Kreuzzug für die freie Welt". Kissinger akzeptiert Putins Regierung. Historisch beschlagen, beschreibt er, warum dieses riesengroße Land schwer zu führen ist.

Für Putins Außenpolitik hat er ein bisschen Verständnis. Im Hinblick auf das sich zuspitzende Desaster im Nahen Osten schreibt er: "Russlands Ziele sind größtenteils strategischer Natur; es will zumindest verhindern, dass sich syrische und irakische dschihadistische Gruppen in den muslimischen Gebieten Russlands ausbreiten."

Was sich derzeit in der Ukraine abspielt, kommentiert Kissinger mit zwei Sätzen: An sich wäre es wünschenswert gewesen, dass Russland und die USA sich im Hinblick auf die islamistischen Terroristen verständigten. Der Bürgerkrieg in der Ukraine könnte das aber unmöglich machen: Es drohe "ein Rückfall in die Denkstrukturen des Kalten Kriegs". Die Ukraine ist aus Kissingers geostrategischer Sicht nicht so wichtig wie die Frage nach dem Verhältnis zwischen Russland und den USA.

Im Hinblick auf Iran teilt Kissinger die Ansichten der meisten westlichen Politiker: Das Land dürfe keine Atomwaffen produzieren. Anders als die meisten konzediert er der Regierung, dass sie in Sachen Herrschaft auf eine in Jahrhunderten "verfeinerte Staatskunst" zurückgreift. Deshalb meint er: "Die Vereinigten Staaten und die westlichen Demokratien sollten sich die Option offen halten, zu Iran kooperative Beziehungen zu entwickeln." Er glaubt nicht, dass Teheran, wenn es denn Atomwaffen hätte, diese je einsetzen würde. Seine Sorge ist vielmehr, dass dieses Beispiel Schule machen könnte.

Die Kriege, die die USA in Afghanistan und im Irak angefangen haben, kommentiert Kissinger mit wolkigen Worten. Er bekennt sich allerdings dazu, dass er selbst es für richtig hielt, Saddam Hussein zu stürzen. Merkwürdigerweise sagt er nicht, wie er sich die spätere Zukunft des Landes vorstellte. Er begnügt sich mit der Feststellung, eine Demokratie westlicher Art hätte man dort sowieso nicht einführen können.

Der Krieg gegen Saddam Hussein 2003 war verheerend: Seither ist der Irak dem Chaos anheimgegeben, was übelste Auswirkungen auf die ganze Region hat. 2012 hat Zbigniew Brzeziński, er war Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter und denkt auch realpolitisch, ein Buch publiziert: "Strategic Vision".

Anders als Kissinger windet Brzeziński sich nicht um deutliche Urteile herum: George W. Bushs "Krieg gegen den Terror" habe Amerika großen Schaden zugefügt, weil damit "rassische" und "religiöse" Konflikte aufgekommen seien. Den Irak-Krieg bezeichnet Brzeziński als "unnötig". Brzezińskis Buch, das in deutscher Sprache nicht erhältlich ist, kommt ohne Rückgriff auf die Geschichte aus, aber es ist klarer als Kissingers neuer Bestseller.

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Quelle:
SZ vom 25.11.2014
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