Politologe Jürgen Falter zur Regierungsbildung:"Die SPD war stets eine staatstragende Partei"

Jürgen Falter

Jürgen Falter (Archiv): Die Wähler haben viele der von der SPD durchgesetzte Änderungen eher der Bundesregierung insgesamt und damit Angela Merkel als der SPD angerechnet

(Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb)

Politikwissenschaftler Jürgen Falter über die schwierige Lage der Sozialdemokraten, die Zukunft von Parteichef Martin Schulz - und die beste Aufgabe für Andrea Nahles.

Interview von Lars Langenau

SZ: Minderheitsregierung, große Koalition, Neuwahlen. Wie wird es weitergehen?

Jürgen Falter: Es wird ziemlich sicher zu Verhandlungen zwischen SPD und CDU/CSU kommen, bei denen die Sozialdemokraten erheblichen Druck ausüben werden, sehr viele ihrer Forderungen in einer möglichen Koalition durchzudrücken. Auf jeden Fall mehr als 2013, weil die SPD nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen jetzt am längeren Hebel sitzt. Aber das bedeutet natürlich nicht, dass es zwangsläufig zu einer Neuauflage der großen Koalition kommen wird. Ich gehe jedenfalls nicht davon aus, dass sich die SPD so weit durchsetzen kann, wie sie es gerne hätte. Das würde ja eine totale Selbstaufgabe der Unionsparteien bedeuten, bei der vor allem die CSU nicht mitmachen würde. Wo sich die SPD vermutlich nicht durchsetzen wird, ist ihr Modell der Bürgerversicherung und ihre Vorstellungen eines garantierten Rentenniveaus, bei deren Realisierung enorme Steuerbeiträge in die Rentenkassen fließen müssten.

Und was, wenn die große Koalition nicht zustande kommt?

Dann wird es meiner Einschätzung nach eher eine Minderheitsregierung geben als Neuwahlen. Denn diese kosten Geld, Kraft und die Mandate der jetzigen Bundestagsabgeordneten wären dann in Gefahr. Außerdem ist es unklar, ob Neuwahlen nicht doch nur der AfD nützen würde.

Warum haben die Sozialdemokraten so große Angst vor einer großen Koalition?

Die Wähler haben viele der von der SPD durchgesetzte Änderungen eher der Bundesregierung insgesamt und damit Angela Merkel als der SPD angerechnet. Die Sozialdemokraten mussten erleben, dass die Kanzlerin flexibel und pragmatisch von einem Thema zum nächsten sprang und es sich aneignete. Mit einer anderen Kanzlerin wie beispielsweise Ursula von der Leyen hätte es die SPD sicher leichter.

Bisher kritisierten Sie "partei-egoistische Gründe" der SPD. Jetzt gibt es Bewegung, auch wenn SPD-Chef Martin Schulz bekräftigt hat, dass die anstehenden Gespräche nicht zwangsläufig in einer großen Koalition münden müssen. Was passiert, wenn die SPD doch koaliert: Wird sie dann nicht wie die Sozialisten in Frankreich in der Bedeutungslosigkeit landen?

Das ist nicht gleich zu setzen. In Frankreich gibt es ein Wahlsystem mit absoluter Mehrheits- und Stichwahlentscheid. Dies beschleunigt den Absturz einer Partei. Außerdem unterscheiden sich die französischen Sozialisten deutlich von den deutschen Sozialdemokraten - und François Hollande hat als Staatspräsident eine sehr unglückliche Figur gemacht.

Da müsste sich also Schulz ebenfalls sehr ungeschickt verhalten?

Und er ist nicht Staatspräsident, sondern nur Parteivorsitzender. In dem Maße, wie sich die SPD als traditionelle Arbeiterpartei darstellt, wird sie künftig zunehmend Probleme bekommen mehr als 20 Prozent der Stimmen einzufahren: durch die Automatisierung wird es immer weniger Arbeiter geben. Eine reine Arbeiterpartei wäre strukturell zur Rolle einer Minderheitspartei verdammt sein. Die einseitige Fixierung darauf, eine Arbeiterpartei zu sein, führt zwangsläufig zum Verzicht, Volkspartei zu sein.

Aber die SPD heißt doch sowieso nur noch aus Tradition Arbeiterpartei. Sie definiert sich doch längst weitgehend als Arbeitnehmerpartei - und das ist ja noch die Mehrheit des Volkes.

Die Interessen von Angestellten und Beamten sind keineswegs die gleichen wie die von Arbeitern. Bei einer Arbeitnehmerpartei kommen sehr unterschiedliche Interessen, Lebensentwürfe und Lebenslagen zusammen. Wenn ich es einmal ironisch formuliere: Die SPD könnte sich vielleicht Partei der Schlechter-Verdienenden nennen.

Das hört sich nicht besonders attraktiv an.

Eben. Die Partei der Besserverdienenden als Synonym für die FDP war ja schon schlimm, aber immerhin noch besser als das.

Wenn die Volksparteien jetzt in wie auch immer geartete Gespräche gehen, wann kümmern sie sich um die Analysen der schlechten Wahlergebnisse?

CDU, CSU und SPD würden sich tatsächlich einfach weiter aus der Realität stehlen, wenn sie ihre Wahlergebnisse nicht einer schonungslosen Analyse unterzögen., Trotzdem wird es wohl nicht dazu kommen, denn würde sich etwa die CDU tatsächlich ihrem Verlust von acht Prozentpunkten stellen, dann käme Angela Merkel dabei ziemlich beschädigt heraus. Und gerade das will man verhindern.

Wie kann es sein, dass Kanzlerin Merkel es nicht schafft eine Regierung zu bilden, aber dass dies der SPD angelastet wird?

Die SPD hat den großen Fehler gemacht, wenige Minuten nach Schließung der Wahllokale kategorisch nicht nur eine erneute große Koalition, sondern auch Gespräche darüber auszuschließen. Schulz sagte das dann noch solange apodiktisch, bis er auf Veranlsssung des Bundespräsidenten von seinen Parteifreunden eines Besseren belehrt wurde. Die SPD war stets eine staatstragende Partei, bei der - wenn es hart auf hart kam - fast immer das Staatswohl gegenüber dem Parteiwohl Priorität hatte.

Aber die klare Ansage in die Opposition zu gehen, wurde von den SPD-Anhängern doch bejubelt.

Eine Partei wie die SPD kann sich nicht einfach davonstehlen. Sie kann sich nach Sondierungsgesprächen verweigern, aber doch nicht schon im vornherein.

Das war ja nun vorrangig ein Standpunkt des Mannes, der mit 100 Prozent als Parteichef gewählt worden war. Ist Martin Schulz noch zu halten?

Sein wiederholtes Nein zu Gesprächen war ein Fehler. Sigmar Gabriel wäre das vermutlich nicht passiert. Er hätte zumindest irgendwo noch ein "nach Lage der Dinge" eingeflickt. Trotzdem glaube ich nicht, dass Schulz stürzen wird. Eher zieht er sich selbst zurück. Danach sieht es momentan aber nicht aus. Außerdem ist er bei den Funktionärskadern und auch den einfachen Mitgliedern ziemlich beliebt. Zumindest ist er derzeit beliebter als jede und jeder andere. Deshalb glaube ich, dass er die kommenden drei Wochen als Parteivorseitzender überleben wird. Aber dann? Wer weiß.

Steht Sigmar Gabriel vor einem Comeback?

Vermutlich nur als Außenminister, weil ihm der Job offensichtlich gefällt. Vielleicht ist das auch der Preis, den er verhandelt, damit er stillhält. Würde er jedenfalls jetzt versuchen, Schulz zu stürzen, würde die Partei ihn als Königsmörder abstrafen.

"Merkel ist das Beelzemädchen der AfD"

Spiegelt sich der Kampf zwischen dem rechten und linken Parteiflügeln in der SPD in den Personen Nahles und Schulz?

Nahles steht nicht mehr für ganz links und Schulz nicht für ganz rechts. Beide haben sich auf die Mitte der Partei zubewegt, wie es traditionell die Funktionsträger der Partei schon immer getan haben. Deshalb glaube ich nicht, dass Nahles den linken Parteiflügel repräsentieren kann, dafür sind Leute wie Matthias Miersch und Ralf Stegner zuständig. Nahles hat pragmatisch regiert und sich längst von ihrer Juso-Vergangenheit befreit. Heute verkörpert sie den Mitte-links-Teil der SPD. Allerdings glaube ich, dass Nahles noch größere Ziele verfolgt und womöglich die nächste Kanzlerkandidatin der SPD werden wird. Bei einer großen Koalition wäre sie als Fraktionsvorsitzende allerdings eine Vollzugsgehilfin der Regierung. In diesem Fall wäre sie als Superministerin in der Regierung besser aufgehoben, weil sie sich in dieser Rolle viel besser profilieren könnte. Als Fraktionsvorseitzende müsste sie den Volker Kauder der SPD spielen und immer die Mehrheiten auch für unbequeme Entscheidungen organisieren.

Können Sie verstehen, warum die Union sich so sehr vor einer Minderheitenregierung ziert?

Nein, denn sie könnte doch mit je nach Thema wechselnden Mehrheiten, also der fallweisen Unterstützung von Grünen, FDP und SPD viel mehr durchsetzen als in einer großen Koalition.

Und auch mit der AfD zusammen stimmen?

Das wird vermutlich nicht passieren, weil deren Parteigänger und Funktionsträger Angela Merkel hassen wie die Pest. Merkel ist das Beelzemädchen der AfD.

Ein kurzer Blick auf die anderen Parteien: Sie haben gesagt, dass die FDP "extremen Mut bewiesen" hat, sich unpopulär zu machen". Stehen Sie dazu noch?

Natürlich! In Umfragen verliert sie an Zustimmung. Sie ist das Risiko sehenden Auges eingegangen, aber es fehlte ihr wohl die Fantasie, dass die SPD nun vielleicht doch wieder zu einer großen Koalition bereit seien könnte - und es dann zu einer Politik kommen wird, die die FDP ja eigentlich völlig ablehnt.

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