Politkowskaja-Prozess:Kein Zweifel an den Angeklagten

Der tschetschenische Anwalt Murad Musajew hat im Prozess um den Mord an Anna Politkowskaja Freisprüche erwirkt. Bei der Revision aber rechnet er mit allem.

Sonja Zekri, Moskau

Zum Glück ist er nicht George Clooney, sonst wäre es in Grosny kaum auszuhalten. Die Paparazzi. Die kreischenden Fans. Der VIP-Rummel. Entsetzlich! Zum Glück ist er Murad Musajew, und so stört ihn an Tschetschenien, was alle anderen auch stört. Dass zum Beispiel eine Bombe hochging, als er in einem Café saß.

Politkowskaja-Prozess: Für Murad Musajew ist Anna Politkowskaja eine Heldin. Aber seine Mandanten hält er für unschuldig und glaubt, dass die Staatsanwälte die echten Täter kennen.

Für Murad Musajew ist Anna Politkowskaja eine Heldin. Aber seine Mandanten hält er für unschuldig und glaubt, dass die Staatsanwälte die echten Täter kennen.

(Foto: Foto: AP)

Abgesehen von diesem bekannten Schrecken genießt Murad Musajew hier eine angenehme mittlere Prominenz. "Menschen sprechen mich auf der Straße an. Verkehrspolizisten drücken ein Auge zu. Alles dank der Medien", sagt er. Nur dass ihn so viele Unglückliche drängen, ihre Fälle zu übernehmen, weil sie glauben, er könne vor Gericht zaubern, bedrückt ihn etwas: "Ich kann keine Wunder wirken."

Das Missverständnis ist begreiflich. Murad Musajew hat Tschetschenen im Ulman-Prozess als Anwalt gegen russische Kriegsverbrecher vertreten, ebenso wie im karelischen Kondopoga, wo es vor zwei Jahren zu ethnischen Unruhen kam. Vor allem aber ist er Verteidiger im Prozess wegen des Mordes an der Journalistin Anna Politkowskaja.

Seine Mandanten, die Brüder Ibrahim und Dschabrail Machmudow, wurden im Februar von einem Geschworenengericht freigesprochen. In einem Land, in dem mehr als 90 Prozent der Strafverfahren mit einer Verurteilung enden, war das ein ungeheuerlicher Vorgang.

Die Journalistin Julia Latynina kritisierte die "Verteidigung von Mördern und Abschaum". Aber auch sie sagte: "Musajew ist ein blendender Jurist." Die Staatsanwaltschaft, das Gericht, das System der gelenkten Justiz waren brüskiert, zerlegt durch einen strafrechtlichen Newcomer von 26 Jahren. Einen Tschetschenen.

"Wie aus dem tschetschenischen GQ"

Ende Juli sitzt Murad Musajew in einer Pizzeria in einer Moskauer Fußgängerzone, trägt ein schwarzes Hemd mit Stehkragen und dunkle Wildlederschuhe. Der New Yorker hatte geschrieben, er sehe aus, "als sei er gerade aus einem tschetschenischen GQ getreten", einem Männermodemagazin.

Gemessen an dem Umstand, dass an diesem Mittwoch der Prozess gegen seine Mandanten in eine zweite Runde geht, nachdem ein Gericht die Freisprüche aufgehoben hatte, wirkt er bemerkenswert entspannt. "Ich habe vier Monate mit den Akten im Arm geschlafen, ich kenne das Material."

Und er kennt den Gegner, erstklassige Staatsanwälte, erfahrener als er. Es hat ihnen nicht geholfen. "Sie haben sich früh festgelegt und dann die Beweise hingebogen." Die widersprüchlichen Handyprotokolle, die unterschiedlichen Wege des Opfers und der Angeklagten. "Anna Politkowskaja war für Tschetschenen der am meisten respektierte Mensch der Welt. Wäre ich katholisch, würde ich für ihre Heiligsprechung eintreten. Aber dieser Strafprozess ist eine Lüge."

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum sich Murad Musajew von Drohungen nicht beeindrucken lässt.

Strafverteidigung, ein tödliches Gewerbe

Im zweiten Prozess wird er durch Versuche beweisen, dass der Tathergang rein zeitlich nicht hinhaut. Er kennt seine Grenzen, er hatte Glück mit den Geschworenen. Die neue Jury könnte handzahmer sein, die Sicherheitsdienste könnten einige hinsichtlich des gewünschten Urteils instruieren. Oder sie könnten grundsätzlich Vorbehalte gegen Tschetschenen haben.

"Aber auch diese Menschen haben ein Gewissen", sagt Musajew: "Man kann sie überzeugen. Zumindest muss man es versuchen." Russland ist von einem Rechtsstaat weiter entfernt als von den Tropen, "aber wenn es keiner versucht, wird sich nie etwas ändern".

Murad Musajew ist ein untypischer Tschetschene, kein Opfer, kein Militanter, sondern der seltene Fall eines vom Krieg und der Angst nicht deformierten Optimisten. Seine Familie ist kaukasisches Bildungsbürgertum, der Vater Jurist, die Mutter Historikerin, die Brüder Juristen, die Schwester lehrt Ökonomie. Als Murad elf war, floh die Familie nach Moskau.

"Der Tschetschene ist nämlich immer schuld"

Er besuchte die Elite-Universität MGIMO, die Hochschule für Steuerrecht, die Maimonides-Akademie, er machte drei Abschlüsse, alle mit Auszeichnung. In Grosny starb die Hälfte seiner Schulkameraden im Krieg. Musajew spezialisierte sich auf Unternehmensrecht.

"Bin ich untypisch? Ich weiß nicht. Würde in diesem Café jemand eine Frau beleidigen, müsste ich ihm als Tschetschene dafür aufs Maul hauen. Nach allgemeiner Auffassung wäre ich damit ein Terrorist. Der Tschetschene ist nämlich immer schuld", sagt er aufgeräumt. Manchmal klingt er, als wäre das Ganze ein großes Spiel.

Dabei ist Strafverteidigung in Russland ein tödliches Gewerbe. Im Februar wurde in Moskau der Menschenrechtsanwalt Stanislaw Markelow erschossen. Auch er vertrat Tschetschenen. Aber noch nimmt Musajew die Drohungen sportlich. Als ihn ein Vertreter der Anklage vor einem Radio-Interview warnte, der Auftritt könne strafrechtliche Konsequenzen haben, posaunte Musajew, sollte er so maßlos daherquatschen wie der Generalstaatsanwalt, könne man ihn gerne anklagen.

Furchtlos oder naiv?

Als sein Mandant ihm berichtete, er sei im Gefängnis geschlagen worden, marschiert er in die Petrowka 38, den Sitz der Moskauer Polizei, und reizt die Beamten mit Macho-Sprüchen. Zwei Tage später bedrängten ihn nachts zwei Autos, vielleicht ein Zufall, vielleicht nicht. Nein, er sei kein Supermann. "Aber ich kann ja nicht beim ersten Widerstand einknicken."

Musajew mag furchtlos sein oder nur naiv, jedenfalls ist er einer der wenigen, die den Namen der Schreckensfigur des Kaukasus in den Mund nehmen, Ramsan Kadyrow, Moskaus Statthalter in Grosny. Nein, Kadyrow habe bislang kein Interesse an dem Prozess erkennen lassen.

Und ja, es gebe nach wie vor Entführungen und Morde, aber - und hier vollführt Musajew eine interessante juristische Volte - die seien die Schuld Moskaus, nicht Kadyrows. "Hätte Russland uns vor 14 Jahren in Ruhe gelassen, Tschetschenien wäre heute die Schweiz."

Anna Politkowskajas Kinder hat Musajew von der Unschuld seiner Mandanten nicht überzeugt, aber er ist sicher, dass er das auch noch schafft. Wenn allerdings Ibragim und Dschabrail unschuldig sind, wie er sagt, und sogar ihr Bruder Rustam, der als eigentlicher Täter gilt, wer hat die Journalistin dann umgebracht? "Die Generalstaatsanwaltschaft kennt den Täter", sagt er: "Aber sie wollen die Wahrheit vertuschen. Darum ist im zweiten Prozess alles möglich."

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