Süddeutsche Zeitung

Helmut Schmidt:Der Weltökonom

Helmut Schmidt steuerte die BRD durch Öl-Embargo und Währungsturbulenzen. Als Kanzler erfand er Instrumente gegen die Krisen. Die G-7-Gipfel und der Euro sind auch sein Erbe.

Von Nikolaus Piper

In den späten Siebzigerjahren kursierte unter Journalisten in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn ein Witz: Regierungssprecher Klaus Bölling bittet die Mitglieder der Bundespressekonferenz zu einem Termin in die Rheinaue. "Es wird etwas ganz Besonderes", verspricht Bölling. Die Kollegen versammeln sich am Rheinufer, Bundeskanzler Helmut Schmidt fährt vor, begibt sich zum Rheinufer, geht über das Wasser nach Bonn-Beuel hinüber und wieder zurück. Die Journalisten stürzen in ihre Büros, um die Sensation der ganzen Welt zu berichten. Schlagzeile am nächsten Morgen in der Bild-Zeitung: "Schmidt kann nicht schwimmen".

Die Geschichte sagt viel aus über Bild in den alten Zeiten, mehr noch aber über die Bewunderung, die Schmidt entgegengebracht wurde. Das Wort vom "Weltökonomen" mag ironisch gebrochen gewesen sein, viele erwarteten aber in diesen Jahren tatsächlich Wunder von dem Mann, der die Nation mit den komplexen Fragen der Weltwirtschaft vertraut machte.

Sein Ethos: Politischer Pragmatismus in moralischer Absicht

Helmut Schmidt war der Kanzler, der das unvermeidliche Ende des westdeutschen Wirtschaftswunders zu bewältigen hatte. Zwei Daten markieren dieses Ende: Am 14. August 1971 kündigte US-Präsident Richard Nixon einseitig die Verpflichtung der USA auf, Dollar jederzeit in Gold zu tauschen. Damit war das Währungssystem der Nachkriegszeit mit seinen festen Wechselkursen am Ende. Und der 6. Oktober 1973, als der Jom-Kippur-Krieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn losbrach. Mit ihm begannen das Öl-Embargo gegen den Westen und die erste Ölkrise. Zwei wichtige Grundlagen des Wirtschaftswunders, eine unterbewertete D-Mark und billiges Öl, fielen damit weg. Dem Reform-Optimismus der sozialliberalen Koalition, die 1969 ihr Amt angetreten hatte, war die Grundlage entzogen. Jetzt mussten sich die Westdeutschen selbst um ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit kümmern. Der Kieler Ökonom Herbert Giersch sprach damals von der "Reprivatisierung des Beschäftigungsrisikos". Schmidt nahm Giersch diesen Satz sehr übel, er traf aber genau das ökonomische Problem von Schmidts Kanzlerschaft. Die Bundesregierung hatte die Fähigkeit verloren, unmittelbar für Vollbeschäftigung zu sorgen.

Schmidt wurde auch deshalb Kanzler, weil Willy Brandt diesen Umstand nicht verstand. Unmittelbare Ursache von Brandts Rücktritt am 7. Mai 1974 war zwar, dass es der DDR gelungen war, den Spion Günter Guillaume im Kanzleramt zu platzieren. Entscheidend geschwächt war Brandt aber schon zuvor. Im Februar 1974, mitten in der Ölkrise und der bis dahin schwersten Rezession in der Geschichte der Bundesrepublik, hatte Heinz Kluncker, der Vorsitzende der Gewerkschaft ÖTV (dem Vorläufer von Verdi), mit einem dreitägigen Streik der Müllarbeiter Lohnerhöhungen von elf Prozent erkämpft - völlig unverantwortlich in einer Zeit, in der die Zahl der Arbeitslosen steil anstieg. Brandt gab Kluncker nach, ohne zuvor seinen Finanzminister Schmidt gefragt zu haben; das war einer der Anlässe, bei denen der studierte Volkswirt Schmidt die Überzeugung gewann, dass Brandt nichts von Wirtschaft verstand.

Der Nachfolger Brandts war nicht der Mann der großen Entwürfe. Sein Leitbild war das "Ethos eines politischen Pragmatismus in moralischer Absicht", wie er 1986 in seiner Abschiedsrede im Bundestag formulierte. Sein Instrument war das vertrauliche Gespräch unter vernünftigen Leuten. Zusammen mit seinem Freund, dem französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d'Estaing, erfand Schmidt das, was man damals "Weltwirtschaftsgipfel" nannte. Im November 1975 kamen auf Schloss Rambouillet bei Paris die Staats- und Regierungschefs der USA, Frankreichs, Deutschlands, Japans, Großbritannien und Italiens zusammen, um die Verwerfungen durch Ölkrise und Rezession zu diskutieren. Aus der damaligen Kaminrunde entwickelte sich der heutige G-7-Gipfel-Zirkus mit riesigem Medien-, Demonstrations- und Polizeiaufwand. Schmidt empfand dies alles als "reinen Quatsch".

Leicht vergessen wird Schmidts Beitrag zur Vorbereitung des Euro. Wie viele andere Finanzpolitiker konnte er sich nach dem Zusammenbruch der alten Währungsordnung ein System völlig freier Wechselkurse in Europa nicht vorstellen. Deshalb initiierte er noch als Finanzminister die europäische "Schlange", in der von 1973 an neun europäische Länder ihre Währungen aneinanderbanden. Die Schlange machte Währungszusammenarbeit zur Routine und öffnete den Weg zum Euro. 1974 organisierte er zusammen mit Bundesbank-Präsident Karl Klasen und unter großer Dehnung des Gesetzes einen Zwei-Milliarden-Dollar-Kredit für Italien. Dem Land drohte eine Zahlungsbilanz-Krise.

Er gewinnt gegen Strauß, aber er verliert den Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit

Schmidt half es, dass er zum US-Präsidenten Gerald Ford ein sehr gutes Verhältnis hatte. Umso schwieriger wurde es, als 1977 Jimmy Carter sein Amt antrat. Den beiden gelang es nie, ein produktives Verhältnis zueinander zu entwickeln. Für Schmidt war Carter "ein netter Kerl, der nichts von Wirtschaft versteht". Carter selbst beschwerte sich noch in seinen 2010 erschienenen Tagebüchern, dass Schmidt ihn immer wieder gedemütigt habe.

Schmidts Kanzlerschaft ging zu Ende nach der nächsten großen Wende in der Weltwirtschaft. Ende 1979 machte sich die US-Notenbank erstmals ernsthaft daran, die Inflation zu bekämpfen. Die Zinsen schossen in die Höhe, weltweit brach eine schwere Rezession aus. Schmidt schaffte noch einen triumphalen Wahlsieg gegen den Unionskandidaten Franz Josef Strauß, danach verschärfte sich jedoch die Krise. Die Massenarbeitslosigkeit breitete sich aus, das Defizit im Bundeshaushalt stieg. Einsparungen wurden unvermeidbar.

Die SPD-Basis, wegen der Nato-Nachrüstung ohnehin in Aufruhr, sperrte sich mehr und mehr gegen die Finanzpolitik des eigenen Kanzlers. Gleichzeitig forderte die FDP noch mehr Kürzungen und marktwirtschaftliche Reformen. Deren Vorsitzender Hans-Dietrich Genscher betrieb mehr oder weniger offen den Koalitionswechsel zur Union. Am 9. September 1982 legte Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff ein Reformprogramm vor, von dem er wusste, dass es die SPD niemals akzeptieren würde. Das "Lambsdorff-Papier", dessen wirklicher Autor der spätere Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer war, wirkte als Scheidungsurkunde und war auch so gedacht. Am 17. September entließ Schmidt alle FDP-Minister. Am 1. Oktober 1982 wählte der Bundestag Helmut Kohl zum Nachfolger Schmidts.

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SZ vom 11.11.2015/vit
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