Süddeutsche Zeitung

Katalonien-Konflikt:Die Utopie als Ausweg

Die Historikerin Birgit Aschmann zeigt, welche Rolle Emotionen bei der Eskalation des Unabhängigkeitskonflikts in Katalonien spielten. Der Fall ist ein Lehrstück: Auch der Kampf fürs Gute kann zum Schlechten führen.

Von Karin Janker

Wie hoch es im Herbst 2017 in Katalonien herging, politisch wie emotional, lässt sich am Konsum von Schlaftabletten ablesen. In jener Hochphase des Konflikts um eine Unabhängigkeit der Region vom Rest Spaniens waren in katalanischen Apotheken Schlafmittel vorübergehend ausverkauft. Die Nachfrage sei einfach zu hoch gewesen, nicht mehr zu bewältigen, berichtete ein Apotheker dem Historiker Enric Ucelay-Da Cal. Und auch der Historiker selbst beschrieb damals eine Anspannung, die ihn nicht schlafen ließ in jenen Tagen, als separatistische Politiker um Regionalpräsident Carles Puigdemont mit einem verfassungswidrigen Referendum die Abspaltung von Spanien erzwingen wollten. Revolutionäre Euphorie bei den einen, Angst vor einer ungewissen Zukunft bei den anderen und bei allen schließlich das Gefühl, dass es hier und jetzt um alles geht.

Die Folgen dieses Gefühlsrauschs sind bis heute spürbar. Erst vor wenigen Wochen hat Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez die Begnadigung führender Vertreter der Unabhängigkeitsbewegung durchgesetzt. Dem Gnadenakt ging ein heftiger Streit zwischen Linken und Rechten voraus, der viele jener Emotionen aus dem Herbst 2017 wieder an die Oberfläche getrieben hat. Spanien und Europa wurden einmal mehr Zeuge, wie schmerzhaft die Wunden auf beiden Seiten nach wie vor sind. Um zu verstehen, wie es zur Emotionalisierung und tiefreichenden Spaltung der katalanischen Gesellschaft kommen konnte, lohnt die Lektüre des Buchs, das die Berliner Historikerin Birgit Aschmann jüngst vorgelegt hat: "Beziehungskrisen - eine Emotionsgeschichte des katalanischen Separatismus" liest sich spannend wie ein Krimi.

Geschichte besteht eben nicht nur aus Fakten

Spanien-Expertin Aschmann erzählt von der Vorgeschichte des Konflikts, von seinen Akteuren, vor allem aber vom emotionalen Gehalt dieser spanischen Verfassungskrise. Am Fall Katalonien zeigt sie beispielhaft, wie Emotionen und politisches Handeln sich gegenseitig verstärken. Ihr Buch belegt einmal mehr: Geschichte besteht eben nicht nur aus Fakten, sondern auch aus Fiktionen. Aschmann analysiert darin, wie gefährlich ein komponiertes emotionales Regime, wie es der Nationalpopulismus bereitstellt, für eine Gesellschaft werden kann. Katalonien wird hier zum Lehrstück, wie die zielgerichtete Instrumentalisierung von Emotionen zur Eskalation von Konflikten beiträgt.

Dabei sind nach Aschmanns Darstellung nicht die Emotionen selbst das Problem. Politik ohne Emotion ist schlicht undenkbar. Die Historikerin entwirft keinen Gegensatz zwischen Rationalität und Emotionalität, vielmehr zeigt sie die Eigendynamik auf, die Emotionen im Politischen entwickeln können. Und deren Kraft im Falle Kataloniens sogar die politischen Anführer des Separatismus vor sich hertrieb. Am Ende war auch Carles Puigdemont weder ein Held noch der Unhold, den die Gegenseite aus ihm zu machen versuchte. Er war wohl einer von denen, die zündelten. Aber wie schnell sich das Feuer dann ausbreitete, dürfte selbst ihn überrascht haben.

Aschmann vermeidet in ihrer Studie jede Psychologisierung der anonymen Masse, sie bezieht sich stattdessen auf Zeitzeugen und auf konkrete Beispiele der politischen Inszenierung durch die handelnden Akteure. Ihre Studie kreist um die Frage: Wie ist es möglich, dass eine demokratische Gesellschaft sich derart spalten lässt? Ihre Antwort ist beunruhigend: Empörung, Unzufriedenheit und Frustration mögen der Nährboden dafür gewesen sein. Doch der katalanische Separatismus erstarkte vor allem, weil seine "Vertreter fest davon überzeugt waren, zugunsten von Demokratie, einer besseren Welt und Friedfertigkeit einzutreten, de facto aber an einer Eskalationsschraube drehten, die undemokratische Entscheidungen nach sich zog". Auch der Kampf fürs Gute kann zum Schlechten führen.

Die Euphorie führte zu antidemokratischen Handlungen

Die Unabhängigkeitsbewegung bot den Menschen in Katalonien eine Utopie als Ausweg an: Im Gegensatz zur defizitären realen Demokratie strebte sie nach dem, was sie für die "wahre Demokratie" hielt. Es war also auch moralische Überheblichkeit, die die Unabhängigkeitsbefürworter nicht sehen ließ, wie sie selbst in antidemokratische Handlungsmuster hineinglitten. Aschmann führt zum Beleg dieser These unter anderem die Parlamentsabstimmung über das Gesetz zur "juristischen Transition" an, das den Übergang in eine unabhängige katalanische Republik regeln sollte. Das Gesetz wurde erst zu Sitzungsbeginn auf die Tagesordnung gesetzt und anschließend durchs Parlament gepeitscht, Einspruch der Opposition nicht angenommen. Ein ausländischer Diplomat verglich Katalonien mit "einer zentralasiatischen Diktatur". Der Euphorie von etwa der Hälfte der Bevölkerung, dass sie bald ein Leben in Frieden und Freiheit von den "spanischen Unterdrückern" erwartete, tat dies indes keinen Abbruch.

Besonders spannend ist, was Aschmann mit Verweis auf den Historiker und Kulturanthropologen William Reddy als "emotives" bezeichnet: So hätten Emotionsäußerungen immer auch einen verstärkenden Rückkopplungseffekt. Der Rausch an den eigenen Gefühlen intensiviert diese. Wer in die Welt hinausschreit, dass er glücklich ist, fühlt sich noch glücklicher, so die Theorie. Tatsächlich stellt Aschmann Parallelen zwischen den Gefühlen der katalanischen Unabhängigkeitsvertreter und denen von Verliebten fest. Ihr Gefühlsrausch werde von ihnen selbst als positiv wahrgenommen. Und mag er noch so unheilvoll sein.

"Glaubst du, dass wir in den Krieg ziehen werden?"

So kam es schließlich auch, dass im schlaflosen Herbst des Jahres 2017 selbst der Gedanke an einen bewaffneten Konflikt vielen Menschen in Katalonien nicht mehr völlig abwegig erschien. "Glaubst du, dass wir in den Krieg ziehen werden?", fragten Studierende in Barcelona im Oktober 2017 ihren Geschichtsdozenten. Aschmann zitiert dies als eines von vielen Beispielen, die belegen, wie weit die Eskalationsspirale da schon fortgeschritten war.

Zum Krieg kam es nicht. Doch das Fazit, das sich aus Aschmanns Buch destillieren lässt, ist dennoch alles andere als ermutigend: Zwar sei es nach all den Emotions-Eruptionen in Katalonien in den vergangenen Jahren überraschend friedlich geblieben. Doch die über Jahrzehnte geschürten Ressentiments auf beiden Seiten hätten sich längst verselbstständigt. "Die politische Instrumentalisierung von Emotionen", schreibt Aschmann, "bleibt eine hochriskante Angelegenheit." Ihre Folgen einzudämmen dürfte künftige Politiker noch Jahrzehnte beschäftigen. Vorausgesetzt ihnen ist überhaupt daran gelegen.

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