Süddeutsche Zeitung

Politische Umwälzungen in Peking:China steht vor der dritten Revolution

Opfer seines eigenen Erfolgs? Wohlstand, Stabilität und Macht sind Chinas Erfolge und Krisenherde zugleich. Das Land wird nur dann erfolgreich bleiben, wenn es Antworten auf die drängenden Probleme findet. Doch das neue China steht vor Veränderungen, die so radikal sein werden wie die Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949 oder die Öffnung zum Markt 1979.

Ein Gastbeitrag von Mark Leonard

Chinesen verstehen Geschichte als eine Abfolge von 30-Jahr-Zyklen und benutzen die Sprache des Internets um historische Zusammenhänge zu beschreiben. China 1.0 umfassen demnach die drei Jahrzehnte des Mao Zedong mit einer starren Planwirtschaft, einem politischen System aus dem Lehrbuch des Leninismus und eine Außenpolitik die sich der Weltrevolution verschrieben hatte.

China 2.0 war Deng Xiaopings Politik der Marktöffnung, das zu einem exportorientierten Wachstumsmodell führte. Die chinesische Diplomatie stand unter dem Primat der Wirtschaft, und in der Innenpolitik waren politische Repressionen an der Tagesordnung. Der 18. Parteikongress im November und die neue chinesische Führung markieren den Beginn einer neuen Ära: China 3.0

Das Jahr 2012 stand von Beginn an unter dem Zeichen der Veränderung. Das Dorf Wukan, in der Provinz Guangdong durfte im Januar Wahlen abhalten, um korrupte Staatsdiener loszuwerden. Die hatten das Land der Gemeinde zu viel zu niedrigen Preisen verkauft und dafür Geld kassiert.

Im Februar wurde dann ein Bericht über China im Jahre 2030 veröffentlicht. Darin schlagen Weltbank und die Staatliche Entwicklungs- und Reformkommission (NDRC) weitere Marktreformen für China vor.

Im März stürzte Bo Xilai, der ehemalige Handelsminister, traditionelle Maoist und prinzengleich herrschende Parteichef der Stadt Chongqing - verbunden mit der Warnung aus Peking, nicht in alte Zeiten der Kulturrevolution zurückzufallen.

All diese Reformvorzeichen sind eine Antwort auf eine tiefer liegende Krise. Seit der globalen Finanzkrise im Jahr 2008 ist China Opfer seines eigenen Erfolgs. China hat alle drei Ziele der Deng-Ära verwirklicht: Wohlstand, Stabilität und Macht. Aber die Politik, die das möglich gemacht hat, entwickelt heute selbstzerstörerische Kräfte. Wohlstand, Stabilität und Macht sind zugleich auch die Krisenherde des neuen Chinas. Das Land wird nur dann erfolgreich bleiben, wenn es eine Antwort auf diese drei Schwächen findet.

In den vergangenen 30 Jahren hat sich Chinas Führung den Kopf über die grassierende Armut und die Probleme einer sozialistischen Wirtschaft zerbrochen. Heute müssen sie sich mit den Problemen des deregulierten Marktes und der Kehrseite des Reichtums herumschlagen.

Die chinesische Elite hat sich wie besessen aufs Wirtschaftswachstum konzentriert und dabei versäumt, ein ausgewogenes Wirtschaftsmodell zu etablieren, das notwendig ist für eine langfristige sozioökonomische Entwicklung Chinas. Ein deutlicher Anstieg privaten Konsums und eine Reihe von teuren Prestigeprojekten wurden auf Kosten eines bezahlbaren Gesundheitssystems und des öffentlichen Bildungssystems durchgeboxt.

Auf der einen Seite der öffentlichen Debatte gibt es eine Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern um Zhang Weiying, die radikale marktwirtschaftliche Reformen fordern und damit das Problem des ungleich verteilten Reichtums lösen wollen. Diese Denkrichtung hat die schrittweisen Wirtschaftsreformen der 1980er und 1990er mitinitiiert und will jetzt eine richtige chinesische Marktwirtschaft etablieren. Dabei geht es um die Privatisierung der restlichen Staatsbetriebe, eine Reform des Kreditwesens für private Firmen und das Ende des kollektiven Landbesitzes.

Auf der anderen Seite gibt es einige "linke" Denker, die Gehälter erhöhen wollen und ein Ende der Exportsubvention fordern. Außerdem fordern sie den einfacheren Zugang zu Sozialleistungen, eine grundlegende Reform der Meldewesens (hukou) und ein Ende der künstlich niedrig gehaltenen Zinssätze. Das Problem beider Ansätze ist, dass allen grundlegenden Reformen mächtige Lobbys entgegenstehen, die sich durch jahrzehntelange Vetternwirtschaft entwickelt haben. Dieses Problem muss die chinesische Politik lösen.

Die zweite Schwäche des neuen Chinas ist politischer Natur. Nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz 1989 und dem Ende der Sowjetunion hat sich China einer Demokratisierung weitgehend verweigert. Die Angst vor dem Zerfall Chinas war wohl zu groß. Der chinesische Soziologe Sun Liping, der Doktorvater des neuen chinesischen Präsidenten Xi Jinping, hält China für geradezu besessen vom Gedanken der Stabilität - dies stehe oft Reformen im Weg. Folge dieses groß angelegten Stabilitätsprojekts seien soziale Spannungen. Soziale Unruhen haben in China dramatisch zugenommen.

Mitte der 1990er gab es jährlich ungefähr 9000 Massenunruhen in China, 2011 wurden 180.000 gezählt - das bedeutet: alle zwei Minuten gibt es einen Aufstand. In persönlichen Gesprächen gehen einige Wissenschaftler sogar noch weiter und warnen vor einem neuen "Tiananmen".

Eine wachsende Zahl von Intellektuellen fordern die Partei auf, grundlegende politische Reformen einzuleiten. Aber es gibt auch viele, die sich die Zukunft Chinas nur mit einem charismatischen Führer und einer starken Parteiorganisation vorstellen können - nur dieses System könne Vetternwirtschaft effektiv bekämpfen und die widerspenstige Bevölkerung beruhigen.

Die dritte Herausforderung für das neue China ist seine internationale Rolle. Welche Außenpolitik soll und kann von der globalen Wirtschaftsmacht China erwartet werden? Die Außenpolitik Chinas war lange Zeit geprägt von Deng Xiaopings "tao guang yang hui", was als "verstecke die Helligkeit und pflege die Verworrenheit" übersetzt werden kann. Aber es ist schwer, auf Tauchstation zu gehen, wenn man die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt ist, die Militärausgaben jährlich erhöht und zudem auf jedem Kontinent der Welt präsent ist.

Viele chinesische Diplomaten wollen sich auch in Zukunft auf Bescheidenheit und Besonnenheit konzentrieren. Andere sehen China in einer bipolaren Welt, in der Konzepte wie Neutralität, Nichteinmischung oder das Primat der Wirtschaft nicht mehr zeitgemäß sind, um mit den USA zu konkurrieren.

Viele im Westen würden über die Einschätzung der Hu-Wen-Ära als "verlorenes Jahrzehnt" staunen - immerhin hat sie dem Land ein jährliches Wachstum von zehn Prozent beschert. Da notwendige Reformen nicht angepackt wurden, wird das neue China 3.0 nicht um grundlegende Veränderungen herumkommen, die so radikal sein werden wie die Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949 oder die Öffnung zum Markt 1979.

Die heutigen Reformer in China 3.0 werden keine Modelle haben, auf die sie sich beziehen können. Der alte Peking-Konsens scheint nicht mehr zu funktionieren; die Modelle des Westens sind diskreditiert. Die neue chinesische Führung betritt Neuland.

Der Brite Mark Leonard, 39, ist Direktor des European Council on Foreign Relations und Herausgeber von China 3.0 - Understanding the new China.

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SZ vom 08.01.2013/rela
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