Süddeutsche Zeitung

Politische Professoren:Staatshistoriker

Die deutsche Demokratie braucht die akademischen Großdebatteure - weil diese Demokratie immer wieder und aufs Neue gefestigt werden muss.

Von Johan Schloemann

Hans-Ulrich Wehler, der vor zwei Jahren verstorbene Historiker, kannte auch die Durchwahl seines zuständigen Redakteurs beim Westdeutschen Rundfunk auswendig. In jungen Jahren hatte er aus Amerika weiße Turnschuhe mitgebracht, und außerdem die Überzeugung, dass Historiker auch Demokratie-Erzieher sind. Dazu gehörte das Eingreifen in öffentliche Debatten, gerne auch morgens früh im Radio.

Ein anderer Gelehrter, Karl Dietrich Bracher, der vor ein paar Tagen gestorben ist, hatte zwar keine Turnschuhe an, und er war auch nicht so oft in den Medien. Aber als Professor für Politikwissenschaft in Bonn, dem damaligen Sitz der Bundesregierung, war auch er eine Art Staatspädagoge. Indem er die Krise der Weimarer Republik und die Methoden der Nationalsozialisten beharrlich sezierte, warnte er vor dem Zusammenbruch der Demokratie.

Warum die öffentliche Debatte über Geschichte notwendig bleibt

Die Nachrufe häufen sich gerade. Wehler und Bracher, das sind nur zwei der großen Figuren, die in der Nachkriegszeit weit über die Universität hinaus zu Lehrern der Republik wurden. Und zwar in der Einigkeit ebenso wie im Streit. Oft kamen sie aus der Geschichtswissenschaft, aber auch aus Politologie, Soziologie und Staatsrecht, also aus Fächern, die in der frühen Bundesrepublik die unfeine Zeitgeschichte seit dem Ersten Weltkrieg noch mit abdecken mussten.

Und weil nach 1945 eine beispiellos lang und auch machtvoll herrschende Gründer- und Aufbaugeneration solche Positionen innehatte, erleben wir in letzter Zeit eine beispiellose Reihe großer Nekrologe. Gestorben sind Hans Mommsen, Fritz Stern, Gerhard A. Ritter, Wilhelm Hennis, und etwas länger schon Ralf Dahrendorf, Wolfgang J. Mommsen, Kurt Sontheimer, Theodor Eschenburg, Dolf Sternberger.

Auch viele Schriftsteller und Publizisten, die persönlich und thematisch tief mit der deutschen Geschichte verwoben waren, sind in dieses Sterberegister aufzunehmen: jüngst Günter Grass, Walter Jens, Siegfried Lenz, auch der soeben verabschiedete Klaus Harpprecht, davor Sebastian Haffner, Joachim Fest, Rudolf Augstein. Am Leben aus dieser ersten Generation sind heute unter anderen noch der Historiker Christian Meier, die Philosophen Hermann Lübbe, Jürgen Habermas und Oskar Negt, sowie als ein Demokratieerzieher der eher schlitzohrigen Art Hans Magnus Enzensberger. Ein paar Jahre jünger, aber auch auf ein gewaltiges Lebenswerk zurückblickend sind Jürgen Kocka und Heinrich August Winkler.

Warum hier diese ganzen Namen? Weil sie selber schon historische Einschnitte markieren. Weil viele ihrer Schriften, Erzählungen und Einsichten in einer Zeit, in der die Demokratie neu auf der Probe steht, wichtig sind und bleiben, so feierstundenmäßig das auch klingt. Und weil sie trotz aller teils erbitterten Streitigkeiten in der Nachkriegszeit etwas gemeinsam haben: Den meisten von ihnen ging es am Ende gerade nicht um den Angriff auf das angeblich verrottete demokratische "System", sondern erst mal um seine Etablierung und Stabilisierung. Unabdingbar war dafür öffentlicher Streit, öffentliches Dozieren über die guten und die desaströsen Traditionen der deutschen Geschichte, wenn auch mitunter in zeittypisch patriarchalischer Manier.

Beim Abgang dieser Granden nun hört man gerne zwei Behauptungen. Erstens gebe es heute derart wirksame, öffentlich präsente Akademiker ja leider überhaupt nicht mehr, weil sich alle in ihre Spezialisierung verkrochen hätten - parallel zur Klage darüber, dass es keine politischen Charismatiker mehr gebe. Und zweitens seien doch professorale Großdebatteure ohnehin etwas peinlich, und man brauche sie nicht mehr, weil die Demokratie ohnehin gefestigt sei.

Beides ist falsch. Die erste Behauptung kann wiederum mit einer kleinen, unvollständigen Namensliste widerlegt werden: Christoph Möllers, Paul Nolte, Andreas Wirsching, Andreas Rödder, Ulrich Herbert, Reinhard Merkel, Norbert Frei, Karl Schlögel, Armin Nassehi, Herfried Münkler, Jörn Leonhard, Ute Frevert. Man sieht, der Frauenanteil ist immer noch zu gering - aber all diese Leute schalten sich heute genauso in die Medien ein wie ihre heroischen Vorgänger. Wenn sie nicht mehr so sehr als Staatshistoriker wahrgenommen werden, dann muss es an zersplitterter Aufnahmebereitschaft liegen, nicht an geringerer Sendebereitschaft. Und sicher ist auch bei manchen der Habitus vorsichtiger und die Themenvielfalt komplexer und globaler geworden.

Wenn man aber heute wieder erklären muss, dass "völkisch" nicht dasselbe ist wie "demokratisch", dann ist die öffentliche Geschichtsdebatte keineswegs überflüssig. Was man einfach nur voraussetzt, kann auch wieder verschwinden.

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SZ vom 23.09.2016
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