Jill Stein:Die Spielverderberin

Green Party Presidential Candidate Jill Stein Holds News Conf. In Washington

Jill Stein erhielt als Präsidentschaftskandidatin der Grünen etwa ein Prozent der Stimmen. Dieses Archivbild zeigt sie bei einer Pressekonferenz im August 2016.

(Foto: AFP)

Die grüne US-Präsidentschaftskandidatin klaute Hillary Clinton 2016 angeblich entscheidende Stimmen. Was treibt Jill Stein an - und warum sind die Linken in den USA weiter so gespalten? Eine Begegnung.

Von Matthias Kolb

Die Frau, der viele die Schuld am Wahlsieg von Donald Trump geben, ist spät dran. Sie ist in Deutschland, um auf Einladung der Bürgerjournalisten-Plattform Actvism Munich über "Freiheit und Demokratie" zu diskutieren. Beides sieht Stein in Gefahr und über beide Themen kann sie viel erzählen: 2012 und 2016 war sie die Präsidentschaftskandidatin der US-Grünen. Erst wurde sie ignoriert und belächelt; das zweite Mal ignoriert und angefeindet.

Sie sei ein "menschliches Ekzem", twittert Kolumnistin Lauren Duca, während andere Stein als "Werkzeug der Rechten" ansehen. Porträts sind überschrieben mit "Jeder hasst Jill", und auch Hillary Clinton verbirgt im Wahlniederlagenverarbeitungsbuch "What happened" ihre Wut nicht.

"Eigentlich müsste man kein Wort über Jill Stein verlieren, wenn sie nicht 31 000 Stimmen in Wisconsin bekommen hätte, wo Trumps Vorsprung weniger als 23 000 betrug. In Michigan erhielt sie 51 000 Stimmen, während Trump mit 10 000 vorne lag", schreibt Clinton und legt nach: "Vielleicht denkt Stein genau wie die Schauspielerin Susan Sarandon, dass Trumps Sieg 'die Revolution' beschleunigen werde."

In dieser Anklage steckt die Frage, die Jill Stein verfolgt: Was treibt eine Frau an, die weiß, dass sie nicht ins Weiße Haus einziehen wird? Darauf eine Antwort zu finden, ist komplizierter als gedacht. Konkret erklärt die 68-Jährige ihr Engagement mit Wut und Verzweiflung. Von den Republikanern erwartet sie nichts, und auf die Demokraten setzt sie auch keine Hoffnungen. 2016 stimmten zwar nur 1 457 226 Wähler für Jill Stein, was 1,06 Prozent entspricht, aber ihr Werdegang erzählt viel über die Probleme der US-Demokratie und warum Linke dort nicht erfolgreich sind.

Eines vorweg: Stein hat Trump nicht zum Präsidenten gemacht. Seriöse Nachwahl-Umfragen zeigen, dass die Mehrheit ihrer Anhänger daheimgeblieben wäre, wenn sie nicht kandidiert hätte. Und anders als im Jahr 2000, als der Grüne Ralph Nader in Florida 100 000 Stimmen erhielt (George W. Bush siegte mit 537 Stimmen Vorsprung), war Clintons Rückstand knapp, aber deutlich. Dass Stein die "Spoiler"-, die "Spielverderber"-These wütend als "Schmutzkampagne" bezeichnet, ist nachvollziehbar.

Sie habe nie Trump und Clinton gleichgesetzt, sagt Stein im SZ-Interview und tut es irgendwie doch: "Jeder sieht, wie schrecklich Trump ist, aber Clinton ist das auf ihre Art auch. Sie tritt freundlicher auf, aber sie steht für aggressive Außenpolitik. Ich bin mir nicht sicher, ob uns eine Präsidentin Clinton nicht längst in einen Krieg mit Russland geführt hätte." Stein leitet ihre gewagte These aus Clintons Wahlkampfforderung ab, eine "No-fly zone" über Syrien einzurichten, was zu Zwischenfällen mit Moskau hätte führen können.

"Die Revolte hat begonnen, und sie wächst jeden Tag"

Bei Steins Auftritt in München und in ihren bei Youtube zu findenden Reden sieht man eine Profi-Politikerin, die ihr Publikum kennt und knapp formulieren kann: "Die Revolte hat begonnen, und sie wächst jeden Tag." Sie plädiert für 100 Prozent erneuerbare Energien und einen radikalen Umbau des Kapitalismus. Das "räuberische System" liege in den letzten Zügen, ruft Stein, und antwortet auf die Frage, wie die US-Medien sie behandeln: "Über mich wird nur berichtet, wenn ich bei Protesten verhaftet werde." Vier Mal ist das geschehen.

Im Gespräch beschreibt sich Stein als "Mother on Fire", die dafür kämpfe, dass ihre Kinder und Enkel angesichts des Klimawandels eine Welt vorfinden, auf der es sich noch leben lasse. Eine Vice-Reporterin, die Stein tagelang begleiten konnte, schrieb: "Sie ist jene Mutter einer Freundin, die man bewundert, weil sie einen auf der Terrasse kiffen lässt. Zugleich ist man froh, dass sie nicht die eigene Mutter ist, weil man dieses Verhalten irgendwie unangemessen findet." Es gibt charismatischere Figuren in der US-Politik, aber authentisch ist Stein fraglos, und wenn sie ins Reden kommt, dann nehmen ihre Sätze kein Ende. Aber das ist bei Bernie Sanders auch nicht anders und mindert dessen Erfolg nicht: Der unabhängige Senator aus Vermont ist Amerikas populärster Politiker. Er hat aber eines erkannt: Wer als Linker in den USA etwas bewegen will, kommt an den Demokraten nicht vorbei.

71 Prozent der unter 35-jährigen Amerikaner wünschen sich eine dritte Partei

Dabei ist die Ausgangslage für neue Parteien so gut wie selten. "Die Unterstützung für die Demokraten schmilzt", sagt Stein und referiert eine aktuelle Gallup-Umfrage. Nur noch 29 Prozent der US-Bürger identifizieren sich mit den Demokraten, 24 Prozent mit den Republikanern. "Fast jeder Zweite sehnt sich nach etwas Neuem", sagt sie. Unter den Millennials, also den unter 35-Jährigen, wünschen sich sogar 71 Prozent eine dritte Partei, weil sie es leid sind, nur das "geringere Übel" wählen zu können.

Was in den USA falsch läuft, ist offensichtlich. Das Vertrauen in die Demokratie sinkt, wie die Wahlbeteiligung zeigt: 60 Prozent stimmten 2016 ab; bei der Kongresswahl 2014 war es nur jeder Dritte. Dass seit dem "Citizens United"-Urteil Firmen und Individuen in unbegrenzter Höhe an Politiker und Parteien spenden können, verschärft die Polarisierung. 77 Prozent der Amerikaner wünschen sich laut Pew Obergrenzen für Wahlspenden, doch Republikaner und Demokraten ignorieren solch für sie unbequeme Wünsche der Bürger.

"Es geht doch nicht, dass die drei reichsten Amerikaner so viel besitzen wie die untere Hälfte der Bevölkerung", ruft Stein empört und beklagt, dass von Trumps Steuerreform Milliardäre wie Jeff Bezos, Warren Buffett und Bill Gates profitieren. Dass weiter 12,2 Prozent der Bürger in der größten Volkswirtschaft der Welt nicht krankenversichert sind und sich trotz der niedrigsten Arbeitslosigkeit seit 18 Jahren die Schere zwischen Arm und Reich öffnet, wird hingenommen. Und seit Jahren ist die Mehrheit der US-Bürger dafür, den Mindestlohn von 7,25 auf mindestens zehn Dollar pro Stunde anzuheben.

Wer diese Daten mit den Ideen der US-Grünen vergleicht, die etwa Krankenversicherung als Grundrecht ansehen, wundert sich über die mickrigen Ergebnisse der Partei. Ein Faktor ist die Tatsache, dass kleine Parteien strukturell benachteiligt werden. Die Harvard-Professorin Pippa Norris formuliert es so: "Die USA sind der klarste Fall von eindeutig parteiischer Manipulation der Regeln. Während Demokraten und Republikaner automatisch auf den Wählerlisten stehen, müssen third parties und Unabhängige den Weg durch ein Labyrinth an lästigen Rechtsauflagen finden."

Wie die Libertären, deren Kandidat Gary Johnson 2016 3,3 Prozent der Stimmen erhielt, beklagen die Grünen, von den TV-Debatten ausgeschlossen zu werden. Deren Teilnehmer legen entweder die großen Sender oder eine von Demokraten und Republikanern kontrollierte Kommission fest. "Es gibt kein Interesse daran, die Wahlbeteiligung zu erhöhen oder andere Stimmen zu hören", stellt Stein wütend fest.

Dabei sieht sie ihren Werdegang als Beweis. Sie blieb nach dem Medizinstudium an der Harvard University in Massachusetts. Als die Demokraten dort eine Reform der Wahlkampffinanzierung blockierten, kandidierte Stein als Grüne 2002 für das Gouverneursamt. Ein Gegner war Mitt Romney, und Stein berichtet stolz, wie sie dem Republikaner in einer TV-Debatte Paroli bot. Immerhin 3,5 Prozent der Stimmen erhielt sie damals, doch weitere Erfolge blieben aus. Dennoch scheint sie überzeugt zu sein, die Welt retten zu können, wenn man sie nur machen lassen würde - und wirkt entschlossen, 2020 erneut zu kandidieren.

Die Ermittlungen von Robert Mueller sind für Stein "Ablenkung"

Das Interview bestätigt den Eindruck des Münchner Auftritts: Aus Jill Stein wird man nicht schlau. Sie kann die strukturellen Probleme der US-Demokratie genau benennen und Lösungen anbieten: In Maine gilt das "ranked-choice"-Wahlsystem, bei dem die Bürger die Kandidaten in einer Rangliste ordnen. Erhält keiner 50 Prozent der Erstplatzierungen, werden die anderen Stimmen berücksichtigt. So wird die Sorge entkräftet, ein Votum für die Grünen oder die Libertären sei Verschwendung.

Andererseits lacht sie zustimmend, als der Moderator zur Begrüßung sagt, er habe befürchtet, dass die CIA Stein entführen werde. Wenn sie das "American Empire", angreift, gibt es viel Applaus der 250 Zuhörer, und ihren Sympathisanten muss Stein dieses angebliche "Imperium" nicht erklären. Der SZ sagt sie, so wolle sie Amerikas militärische, wirtschaftliche und politische Dominanz umschreiben.

Steins Kontakt zu den Grünen in Europa ist allerdings minimal. Beim "Global Greens"-Kongress 2017 wurde ihr ein größerer Auftritt verwehrt; Kooperationen gibt es deutschen Insidern zufolge nur mit US-Grünen auf lokaler Ebene, die pragmatischer agierten und nicht laufend überlegen, wie alles mit allem zusammenhängt.

Was ihr bis heute schadet: Ein Bild mit Wladimir Putin

Daher wundert es nicht, dass beim Actvism-Abend Flyer für eine Veranstaltung am Ammersee über "Migration und die Folgen für Deutschland" ausliegen, wo der Verschwörungstheoretiker Rainer Rothfuß auftritt. Mit ihrem Plädoyer, dass der Westen mehr Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen sollten, wäre Stein am Ammersee wohl nicht populär - ihre Thesen über Russiagate würden dagegen wohl beklatscht werden.

Sie hält die Recherchen von Sonderermittler Robert Mueller für ein "Ablenkungsmanöver" der Medien und der Demokraten. Sie leugnet nicht, dass Moskau versucht habe, Einfluss zu nehmen: "Aber das ist keine Einbahnstraße, wir Amerikaner machen seit Jahrzehnten das Gleiche." Triumphierend verweist sie auf Ex-CIA-Chef James Woolsey, der im Februar bei Fox News im Plauderton verriet, dass die USA natürlich Wahlen im Ausland beeinflusse, "um dort der Demokratie zu helfen".

Russiagate zeigt idealtypisch, wie sich Stein selbst im Wege steht. Es ist unstrittig, dass die USA seit dem Zweiten Weltkrieg bei Dutzenden Wahlen mitgemischt haben, wird oft über Muellers Arbeit berichtet. Trefflich ließe sich von links kritisieren, dass viele Demokraten Mueller zum Retter der US-Demokratie erheben, anstatt zu analysieren, wieso die Partei für Millionen Arbeiter nicht mehr attraktiv ist. Doch Stein hat zu wenig konkrete Ideen, um medial durchzudringen, und ihre Sturheit macht es leicht, sie zu diskreditieren.

Dazu dient vor allem ein Foto: 2015 nahm Stein in Moskau am gleichen Gala-Dinner teil wie Trumps geschasster Ex-Sicherheitsberater Mike Flynn und saß mit Wladimir Putin am Tisch. Der Vorwurf, eine "russische Agentin" zu sein, bleibt lebendig, obwohl Unterlagen der Wahlbehörde zeigen, dass Stein ihre Reise selbst bezahlt hat und betont, kein Wort mit Russlands Präsident gewechselt zu haben.

Jill Stein: Am 10. Dezember 2015 nahm Jill Stein an einem Gala-Dinner in Moskau und saß am gleichen Tisch Russlands Präsident Wladimir Putin und Mike Flynn, der wenige Wochen Sicherheitsberater von Donald Trump war.

Am 10. Dezember 2015 nahm Jill Stein an einem Gala-Dinner in Moskau und saß am gleichen Tisch Russlands Präsident Wladimir Putin und Mike Flynn, der wenige Wochen Sicherheitsberater von Donald Trump war.

(Foto: AP)

Dieses Bild ist eine schwere Hypothek im aktuellen Meinungsklima in den USA, aber Stein ist nicht bereit, die Reise als Fehler zu bezeichnen. Ein Statement wie "Putin ist ein Autokrat mit einer verstörenden Bilanz" klingt pflichtschuldig. Ihre Prioritäten sind andere: Um einen drohenden Atomkrieg zwischen Russland und den USA zu verhindern, sei ein Dialog nötig und deswegen müssten die Dauerkritik an Moskau und die Beschimpfungen ein Ende haben.

Wie gefangen sie in ihrem Denken ist, zeigt auch ihre Reaktion auf die Frage, ob sie 2020 Bernie Sanders unterstützen würde: "Er wird sicher nicht von den Demokraten nominiert werden. Es wird genauso wenig geschehen wie 2016." Wie viele US-Linke traut sie dem Establishment der Demokraten alles zu. Sie ist überzeugt, dass Sanders nur wegen "Sabotage" gegen Clinton unterlag - die von Wikileaks veröffentlichten E-Mails der Parteiführung würden dies belegen.

Damit hält sich Sanders nicht mehr auf. Der 76-Jährige tourt unermüdlich durchs Land, um für progressive Kandidaten zu werben. Er setzt darauf, die Demokraten von innen nach links zu rücken und so erst den Diskurs und dann die Gesetze zu verändern. Ob dies gelingt, ist noch offen, aber momentan ist Sanders viel erfolgreicher als die Grünen, die von außen Druck ausüben wollen. Dies lässt sich mit Zahlen belegen: Während der Senator mit seinen Facebook-Videos Dutzende Millionen Zuschauer erreicht, wurde Jill Steins letzter Clip zu Russiagate nur knapp 16 000 Mal geklickt.

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