Matthias Ecke wirkt für einen Moment etwas sprachlos, als ihn der Bundespräsident dazu aufruft, davon zu erzählen, wie er im Mai im sächsischen Wahlkampf angegriffen und schwer verletzt wurde. Wer den SPD-Europaabgeordneten kennt, weiß, dass Sprachlosigkeit bei ihm eher ein seltener Zustand ist. Sein Fall sei viel weniger schwerwiegend, sagt Ecke dann, und nicht vergleichbar mit denen seiner Vorredner, den Überlebenden und Hinterbliebenen der Anschläge in Hanau und auf den Berliner Breitscheidplatz.
Auch alle, die nach ihm zu Wort kommen betonen, man könne die Fälle nicht vergleichen. Doch: Jeder der neun Gäste hat politische Gewalt erlebt. Anschläge, Angriffe, Drohungen. Mal aus rassistischer oder antisemitischer Motivation. Mal weil sie als Polizistinnen, Politiker oder Journalistinnen als Personifikation einer von den Tätern gehassten Institution auftreten. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sie deshalb zu einem „runden Tisch“ im Schloss Bellevue eingeladen.
Die Zahl der politisch motivierten Straftaten ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen: 2023 lag sie bei mehr als 60 000. Knapp die Hälfte davon haben laut Bundeskriminalamt (BKA) einen rechten politischen Hintergrund. Die Zahl der Beleidigungen und Bedrohungen ist deutlich gestiegen, die der politisch motivierten Gewalttaten leicht gesunken, was sich aber ausschließlich auf den Rückgang im Bereich „sonstige Zuordnung“ zurückführen lässt: In diesen ordnete das BKA Straftaten ein, die sich gegen die staatliche Pandemiepolitik richteten. In allen anderen Bereichen hat es im vergangenen Jahr mehr Gewalttaten gegeben.
„Erst wird gehatet, dann wird zugeschlagen“
Der Bundespräsident sagt zu Beginn in einer Rede, die politische Gewalt lösche „die Grundregeln der Demokratie aus“. Der Weg dahin sei schleichend. Die Hemmschwelle sinke, die Sprache verrohe. „Erst wird gehatet, dann wird zugeschlagen“, sagt Steinmeier. Dabei sieht er auch die sozialen Medien in der Verantwortung: Wenn große Digitalkonzerne nicht schneller und entschiedener gegen Straftaten und Bedrohungen vorgingen, erodiere die Demokratie.
Auch Braun-Lübcke lenkt das Thema am Ende auf die sozialen Medien. Die Zivilgesellschaft müsse auch hier die Augen öffnen und ihre Werte verteidigen. Die Journalistin Franziska Klemenz, die als Reporterin der Sächsischen Zeitung offline wie online mit Gewalt- und Vergewaltigungsdrohungen konfrontiert war, wird noch konkreter: „Ich wünsche mir eine Strafverfolgung, die die Menschen ernst nimmt. Besonders bei digitalen Verbrechen“. Hier fehle es der Justiz offenbar noch an Wissen.
Es ist eines der Themen, die sich durch den Vormittag ziehen. Viele der Angehörigen und Betroffenen erzählen, sie hätten sich nach den Taten von den Behörden nicht immer ernst genommen gefühlt; die psychische und finanzielle Versorgung der Opfer werde häufig zuerst von privaten Solidaritätsnetzwerken gestemmt. Said Etris Hashemi, der den rassistischen Anschlag in Hanau 2020 überlebte und dabei seinen Bruder und mehrere Freunde verlor, führt aus: Viele Familien hätten sich neben der Trauer auch darum sorgen müssen, wie sie künftig finanziell über die Runden kämen.
Die Opfer fühlen sich von den Behörden oft nicht ernst genommen
Astrid Passin kennt diese Probleme nur zu gut. Sie hat bei dem islamistischen Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz ihren Vater verloren und spricht seit einigen Jahren für die Hinterbliebenen. Sie sei stolz, dass das Engagement der Angehörigen und Hinterbliebenen zu einem neuen Entschädigungsrecht geführt habe, sagt sie, allerdings hätte man viel früher aus Anschlägen wie jenem auf das Münchner Oktoberfest 1980 lernen müssen.
Katrin Habenschaden nickt an dieser Stelle immer wieder deutlich. Die ehemalige Münchner Bürgermeisterin ist eingeladen, um über ihre Erfahrungen mit Gewaltandrohungen als Kommunalpolitikerin zu sprechen. Es sind diese Momente, in denen sich die Schwäche des Formats im Schloss Bellevue offenbart. Genau dann, wenn sich ein Austausch zwischen den verschiedenen Betroffenen zu entwickeln beginnt, eine Diskussion oder eine gegenseitige Bestärkung, geht Steinmeier dazwischen und wendet sich einer neuen Person zu. Dadurch bekommt das Format eher den Charakter einer Talkshow, in der der Bundespräsident die Teilnehmenden in plasbergscher Manier jeweils einzeln anspricht.
In der Mitte des runden Tischs steht derweil, so scheint es, ein sprichwörtlicher blauer Elefant. Fast alle der Gäste streifen in ihren Ausführungen die AfD, kaum jemand nennt sie beim Namen. Matthias Ecke drückt es so aus: „Wir haben es mit politischen Polarisierungsunternehmen zu tun, die von einer Kultur der politischen Gewalt profitieren.“ Hashemi spricht mit Blick auf die migrationspolitischen Diskussionen der vergangenen Wochen eine Warnung aus: „Die Debatten, die wir gerade führen, sind gefährlich“, sagt er. Die Mehrheit in diesem Land sei nicht rechts. Aber wenn die demokratische Mitte auf die Themen der Rechten mit aufspringe, sei das ein riesiges Problem: Gerade würden „Narrative gebildet, die zu Taten führen“.