Politische Debatte:Empörung als Prinzip

Wutbürger, "Shitstorm" und die Protestpartei der Piraten sind an die Stelle des Politikverdrusses getreten. Doch statt Beginn einer konstruktiven Diskussion zu sein, haben die Empörungswellen der letzten Zeit nur wenig bewirkt. Einem Stakkato der Erregung folgte das jeweils nächste - zurück bleibt ein schales Gefühl.

Jan Heidtmann

Mama kann also ein Schimpfwort sein - das ist eine Erkenntnis der jüngsten Tage. "Irgendwann muss jeder bei Mama ausziehen", so hat Bayerns Finanzminister Markus Söder begründet, warum die Griechen die Euro-Zone verlassen sollten. Es ist eines der Themen, die in diesem Sommer die Debatte prägen; da waren aber auch noch ein Streit ums Meldegesetz sowie das Gerichtsurteil zur Beschneidung. Scheinbar haben die Themen nichts gemein. Aber ihre Karriere gründet auf demselben emotionalen Motiv: Empörung.

Protest gegen den kalten Sommer

Die Dagegen-Mentalität beschränkt sich nicht auf Wutbürger aus Fleisch und Blut. Selbst Schaufensterpuppen demonstrieren dieser Tage - in diesem Fall gegen den "kalten Sommer".

(Foto: dpa)

Zu beobachten ist eine Entwicklung, die vor knapp drei Jahren begann. In Stuttgart probten viele Bewohner gerade den Aufstand gegen einen neuen Bahnhof, Thilo Sarrazin eroberte die Talkshows, die Schuldenkrise lieferte den Subtext. Gleichzeitig erschien ein kleines Buch, nur 30 Seiten stark. "Empört euch!" lautete der Titel, geschrieben hatte es Stéphane Hessel. Der damals 92-jährige Ex-Diplomat hatte mit seinem Aufruf zum Ungehorsam den Nerv der Zeit getroffen. "Wenn etwas Sie empört, wie mich die Nazis empört haben, werden Sie kämpferisch, stark und engagiert" - diesen schönen Gedanken gab er seinen Lesern mit. Der Aufsatz wurde zum Bestseller.

Seitdem haben sich die Deutschen ziemlich häufig empört. Wurde früher regelmäßig die politische Unmündigkeit des mündigen Bürgers beklagt, scheint die Staatsgewalt nun plötzlich doch vom Volke auszugehen. Wutbürger, "Shitstorm" und Piraten sind an die Stelle des Politikverdrusses getreten. Der überraschende Eifer hat Folgen. Darunter auch viele gute: Das neue neue Meldegesetz wird vermutlich besser werden als das alte; der Bundestag hat sich sehr eindeutig und sehr tolerant zu religiösen Riten bekannt; Deutschland hat sogar wieder einen würdigen Bundespräsidenten.

Schales Gefühl statt konstruktiver Diskussion

Doch es bleibt ein schales Gefühl zurück. Empörung bedeutet, man erhebt sich über die anderen, urteilt über sie. Das braucht eine Gesellschaft regelmäßig, um sich ihrer Normen zu vergewissern. Im besten Fall markiert die Empörung den Anfang einer konstruktiven Diskussion; an deren Ende sind die Grenzen des gesellschaftlich Zulässigen wieder justiert. Doch tatsächlich haben die Empörungswellen der letzten Zeit nur wenig geklärt. Einem Stakkato der Erregung folgte nur das jeweils nächste.

Dem Empörungsbürger geht es nicht um die Natur der Sache, sondern darum, eine Sache zu erledigen - im doppelten Wortsinn. Das einzelne Argument, seine Textur und sein Gewicht spielen dabei kaum eine Rolle. Manche Empörung ist weniger der Ausdruck von Selbstbewusstsein. Eher ist sie die Übersprungshandlung eines durch eine schwer überschaubare Welt verunsicherten Menschen. Im Hintergrund der Debatten werden seine Ängste mitverhandelt - ohne jedoch wirklich angesprochen zu sein. Bei der Wulff-Affäre ging es um die Kluft zu "denen da oben". Beim Meldegesetz war es die Sorge, wie geschützt die eigenen Daten überhaupt noch sind; in der Beschneidungsdebatte das ungeklärte Verhältnis der nicht-islamischen Deutschen zum Islam. Die Siege, die am Ende solcher Debatten erzielt werden, sind nur Scheinsiege. Tatsächlich wächst der als "unerledigt" gekennzeichnete Stapel stetig an.

Das Schicksal der Piraten illustriert das treffend: Getragen von einem generellen Misstrauen gegen die etablierten Parteien wurden sie in vier Landtage gewählt. Jetzt zeigt sich, wie schwer es ist, aus der Empörung heraus Politik zu machen. Die Piraten sind vor allem mit einem beschäftigt: mit sich selbst. Ihr Parteitag in Niedersachsen war bestimmt von Querulanten; es gelang der Partei nicht, einen Spitzenkandidaten zu bestimmen. Zum zweiten Mal.

Das Internet, die Beschleunigung in der Mediendemokratie versetzen die Gesellschaft in einen Zustand beständiger Nervosität. Zu jeder Zeit und aus allen Richtungen kann eine neue Woge der Entrüstung losbrechen. "Freak Waves" nennen Meeresbiologen derlei auf hoher See. Die etablierte Politik reagiert zusehends hilflos. So hatte das Kabinett im Herbst Acta zwar zugestimmt. Als der Protest gegen das Abkommen ausbrach, änderte die Bundesjustizministerin ihre Meinung und agitierte fortan dagegen. Dass es bei Acta auch darum ging, Arbeitsplätze zu schützen, die durch Raubkopien bedroht waren: egal. Ähnlich auch die Verbraucherministerin nach dem Furor ums Meldegesetz - eilfertig stellte sie sich auf die Seite der Kritiker.

Der Finanzminister Söder ist nun noch einen Schritt weiter gegangen. Er gibt nicht einer Empörung nach, sondern agitiert. Er will Empörung schüren. Das mag seiner Partei kurzzeitig nutzen. Aber Augenmaß als Prinzip? Das war einmal.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: