Es war zweifellos das Jahr der Autobiografien. Wobei zwei Autoren die Veröffentlichung ihrer Werke nicht mehr erlebten. Außer dieser tragischen Note war zumindest in den letzten Wochen des Jahres alles überlagert von den Memoiren der Altkanzlerin.
Und wie auch schon die Jahre zuvor war an Krisen und Kriegen kein Mangel. Auch deshalb fokussierten sich die Autorinnen und Autoren auf die Fragilität der Demokratie, den Vormarsch der Rechtsextremisten weltweit, den Krieg Russlands gegen die Ukraine, die Gewaltspirale im Nahen Osten und nicht zuletzt auf die Präsidentschaftswahlen in den USA.
Die Redaktion des Ressorts „Das Politische Buch“ hat die wichtigsten und besten Bücher noch einmal herausgesucht und mit einer durchaus subjektiven Rangfolge versehen. Die ausführlichen Rezensionen sind jeweils am Ende des Textes verlinkt. (Zur Auswahl standen nur Bücher, die unter der Rubrik „Das Politische Buch“ erschienen sind, zahlreiche wichtige Sachbücher wurden jedoch auch im SZ-Feuilleton besprochen.)
1) Anne Applebaum, Die Achse der Autokraten (Siedler)

Wer nur Zeit für ein einziges Buch hat und wissen will, was in der Welt 2024 los war, kommt an der „Achse der Autokraten“ der Publizistin Anne Applebaum kaum vorbei. Nicht ohne Grund bekam die Osteuropahistorikerin für ihre scharfe Analyse zur gegenseitigen Unterstützung von diktatorischen Herrschern wie Wladimir Putin, Xi Jinping oder Kim Jong-un den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Wobei ihr Buch keineswegs friedfertig ist, sondern eher eine robuste Gegenwehr des „Westens“ fordert. Die Stärke des Buchs liegt auch in seiner relativen Kürze – und es versucht zumindest Optimismus anzudeuten. Nichts für Pazifisten, für alle anderen ein augenöffnender Gewinn.
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2) Alexej Nawalny, Patriot. Meine Geschichte (S. Fischer)

Am 16. Februar starb Alexej Nawalny in russischer Lagerhaft. Einige Monate später erschien das Buch, in dem der bekannteste Kremlkritiker seine Geschichte erzählt. Es könnte sein „Denkmal“ werden, schrieb er einmal aus dem Knast, „falls sie mich endgültig erledigen sollten“. Das Buch ist eine Mischung aus Autobiografie, Gefängnistagebuch und Instagram-Posts – eine 560 Seiten lange Anklage gegen die Putin-Herrschaft in Moskau. Und es macht wenig Hoffnung, dass die russische Zivilgesellschaft in absehbarer Zeit aufbegehren wird. Doch Nawalny blieb heiter und ironisch in seinem Kampf für ein anderes Russland. Immerhin ein winziger Trost.
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3) Angela Merkel, Freiheit (KiWi)

Gefühlt redeten seit Monaten alle nur über dieses eine Buch. Und als es dann Ende November endlich in die Läden kam – da war einerseits der Run, aber andererseits auch die Ernüchterung groß. Altkanzlerin Angela Merkel hat in ihren Memoiren viel geschrieben, aber relativ wenig Neues vorgetragen. Sie blieb auch im Buch beim trockenen Merkel-Stil, die Einordnung muss sich der Leser nach der Lektüre zahlloser Fakten selbst zusammenreimen. Und wer nach Eingeständnissen von Fehlern sucht, muss auch zwischen den vielen Zeilen lesen können. Immerhin gab es muntere Auftritte mit Anne Will und Barack Obama. Schmückt sicher viele Bücherschränke.
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4) Wolfgang Schäuble, Erinnerungen (Klett Cotta)

Wolfgang Schäuble hat seine Memoiren im Bewusstsein seines bevorstehenden Todes verfasst. Wenige Wochen bevor er im Dezember 2023 starb, beendete der CDU-Politiker, der mehr als 50 Jahre im Bundestag saß, das letzte Kapitel des Manuskripts. Auf den Markt kamen dann wuchtige Erinnerungen eines Lebens, das ganz und gar der Politik gewidmet war. Und anders als etwa die Altkanzlerin in ihren Erinnerungen schrieb der einstige Minister und CDU-Chef Klartext und sparte nicht an klaren Urteilen und Kritik – auch nicht an Angela Merkel. Auch die Tiefpunkte seiner Karriere (CDU-Spendenaffäre) leuchtete der Machtmensch Schäuble schonungslos aus. 80 Seiten kürzer als das Merkel-Buch, aber sehr viel gehaltvoller.
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5) Lutz Hachmeister, Hitlers Interviews (KiWi)

Auch der Autor dieses Werkes starb tragischerweise vor der Veröffentlichung. Der Publizist und Filmemacher Lutz Hachmeister widmete sich in seinem letzten Buch den etwas mehr als 100 Interviews, die Adolf Hitler zwischen 1922 und 1944 ausländischen Journalisten gegeben hat. Das Ergebnis dieser aufwendigen Recherche ist für den Berufsstand beschämend. Kaum jemand fragte zu Hitlers Judenpolitik, viele zeigten sich zahm im Angesicht des Schwadroneurs. Das brillante Buch handelt von der Korrumpierbarkeit in der Nähe der Mächtigen und davon, wie leicht nötige Kritik vor inszenierter Macht in die Knie geht. Lehrreich, nicht nur für Journalisten.
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6) Matthias Uhl, GRU (wbg Theiss)

Die Agenten des russischen Militärgeheimdiensts GRU agieren oft plump, aber immer robust. Wladimir Putin kann sich auf diese Truppe jedenfalls verlassen, relative Bekanntheit erreichten Einheiten des Diensts im Jahr 2014, als sie als „grüne Männchen“ ohne Hoheitszeichen die Annexion der Krim initiierten. Der Historiker Matthias Uhl hat die Geschichte dieser Spezialeinheit seit 1918 recherchiert und spannend nacherzählt. Zum Verständnis des heutigen Russlands ist seine quellengesättigte Studie unerlässlich. Wie zum Dank schloss der Kreml das Deutsche Historische Institut in Moskau, an dem Uhl forschte, als unerwünschte feindliche Organisation.
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7) Steven Lewitsky, Daniel Ziblatt, Die Tyrannei der Minderheit (DVA)

Die Präsidentschaftswahlen in den USA waren dieses Jahr monatelang im Fokus der Öffentlichkeit, viel Erklärung und Einordnung waren gefragt. Die tiefschürfendste Analyse haben die beiden Harvard-Professoren Steven Lewitsky und Daniel Ziblatt vorgelegt. Sie belegen ausführlich, warum die Demokratie in den USA schon seit Jahrzehnten unterhöhlt wurde, nicht erst seit Donald Trumps erster Amtszeit. Und wie Institutionen, etwa der Supreme Court, und sogar die Verfassung es schwer machen, ein gerechtes Wahlsystem zu etablieren. Ihr Blick in die Zukunft ist pessimistisch, nichts weniger als eine neue Bürgerrechtsbewegung wäre nach Meinung der beiden Starautoren nötig. Nicht so rosige Aussichten.
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8) Ron Leshem, Feuer (Rowohlt Berlin)

Vor dem und zum ersten Jahrestag der bestialischen Attacke der Hamas auf Israel sind zahlreiche wichtige und beklemmende Bücher erschienen. Eines herauszugreifen, fällt schwer. Der ehemalige Geheimdienstoffizier und Journalist Ron Leshem hat es auf sich genommen, eine Chronik des Überfalls zu erstellen; viele Details sind kaum zu ertragen, aber sie helfen zu verstehen, wie traumatisch der 7. Oktober für die Israelis war und wie der Staat das fundamentalste Versprechen nicht einhielt: den Schutz der eigenen Bürger. Die Analyse geht hart ins Gericht mit Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und zeigt zugleich viel Empathie mit den Opfern und dem Schmerz der Angehörigen.
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9) Arne Semsrott, Machtübernahme (Droemer)

Auch über den vermeintlich unaufhaltsamen Aufstieg der AfD ist eine ganze Reihe von Büchern auf den Markt gespült worden. Vor allem vor den drei Landtagswahlen in Ostdeutschland war jede Menge Aufmerksamkeit garantiert. Der Journalist, Aktivist und Leiter des Portals „FragDenStaat“, Arne Semsrott, beließ es nicht bei der nüchternen Analyse, sondern spielte diverse Szenarien durch, sollte die AfD einmal in Regierungsverantwortung gekommen sein. Seine „Anleitung zum Widerstand“ wurde in Sachsen, Thüringen und Brandenburg offenbar wenig gelesen, aber die Brandmauer hielt für dieses Mal ja noch. Ziemlich sicher gibt es bald wieder Gelegenheit, das Buch doch noch zu studieren.
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10) Eckart Lohse, Die Täuschung (dtv)

Der vorweggenommene Kommentar zu Merkels „Freiheits“-Buch erschien schon im Sommer, und die Lektüre lohnt angesichts der Autobiografie der Altkanzlerin umso mehr. Der FAZ-Journalist Eckart Lohse hat sich in seiner Analyse mit einem etwas reißerischen Titel der Frage gewidmet, was in den 16 Merkel-Jahren alles liegen blieb, vertagt oder gar nicht erst angegangen wurde. Und da kam, Stichwort Reformstau, eine ganze Menge zusammen. Aber da Merkel vor allem Stabilität und Regieren mit ruhiger Hand versprach (und meist auch ablieferte), ließen sich die Deutschen gern täuschen. Und reiben sich seit drei Jahren verwundert die Augen ...
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11) Frank Bösch, Deals mit Diktaturen (Beck)

Das Nordstream-Problem war 2022 nach Russlands Überfall auf die Ukraine eine große Sache. Dass das kein Einzelfall der deutschen Geschichte war, schildert eindrucksvoll der Historiker Frank Bösch in seiner Studie „Deals mit Diktaturen“. Es waren stets die Interessen der deutschen Industrie und ihrer Finanziers, die mal offen, mal verborgen das Agieren der Politik bestimmten. Und zwar seit 1949, wie Bösch akribisch aus den Archiven belegt. Da wurde gekuscht und bei Menschenrechtsproblemen großzügig weggeschaut. Man lernt (mal wieder): Geht es ums Geld, werden ethische Skrupel sehr schnell abgeschüttelt.
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12) Moritz Fischer, Die Republikaner (Wallstein)

Es gibt wenig, was nicht schon mal da gewesen wäre. Für viele ist die Partei „Die Republikaner“ von Franz Schönhuber ein im Nebel versunkenes Relikt aus vergangener Zeit. Doch der Historiker Moritz Fischer zeigt eindrücklich, dass Schönhuber schon vor Jahrzehnten vorexerziert hat, was auch die Rechtsextremisten von heute tun: das Sagbare austesten, Grenzen verschieben, Extremismus gesellschaftsfähig machen. Schönhuber als „Motor der Enttabuisierung“ wäre wahrscheinlich stolz auf die AfD. Eine zeithistorische Studie von beklemmender Aktualität.
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13) Franz-Stefan Gady, Die Rückkehr des Krieges (Quadriga)

Selten hat ein Publizist der deutschen Öffentlichkeit einen klareren Spiegel vorgehalten, wenn es um „Kriegstüchtigkeit“ oder „Abschreckung“ geht. Die allermeisten Deutschen, nicht nur die Ostdeutschen, wollen davon normalerweise nichts hören. Obwohl der Krieg schon gefährlich nah an sie herangerückt ist. Andere sagen, der Westen befände sich sogar schon in einem hybriden Krieg mit Russland. Der Militäranalyst Franz-Stefan Gady will das Thema Krieg enttabuisieren. Nicht, weil er kommt, sondern damit er nicht kommt. So einleuchtend wie erschreckend.
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14) Karl Loewenstein, Des Lebens Überfluß (Mohr Siebeck)

Und noch mal eine famose Autobiografie; diesmal die eines Mannes, der zu Unrecht fast in Vergessenheit geraten ist. Der Verfassungsrechtler und Demokratietheoretiker Karl Loewenstein (1891 – 1973) wurde 1933 von den Nazis aus Deutschland vertrieben. Als „eingewanderter amerikanischer Neubürger“ kehrte er nach dem Weltkrieg voller Elan und Optimismus zurück und beteiligte sich mit Schrift und Tat am Wiederaufbau. Die Aufzeichnungen und deren Rezeption führten zu einer kleinen Loewenstein-Renaissance, in deren Folge etwa auch seine hellsichtige Schrift „Apologie des liberalen Staatsdenkens“ von 1932 – ein Vademecum der wehrhaften Demokratie – neu publiziert wurde. Schönste Wiederentdeckung des Jahres.
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15) Martin Debes, Deutschland der Extreme (Ch. Links)

„Höckes Machtlabor“ war im Frühjahr die Rezension zum Buch von Martin Debes überschrieben. Der Journalist darf ohne Zweifel als der oberste Thüringologe bezeichnet werden – doch selbst er konnte nicht vorausahnen, was im September und danach im Erfurter Landtag passierte. Die Realität war noch krasser als befürchtet. Die Analyse bleibt aber trotzdem richtig: Thüringen stand im Zentrum historischer Kleinstaaterei, war erster Aufmarschplatz der Nazis und ist heute der Testfall für die Demokratie. Dürfte (leider) nicht das letzte politische Buch über das Bundesland gewesen sein.
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16) Marcus Bensmann, Niemand kann sagen ... (Galiani Berlin)

Es war ganz sicher die aufsehenerregendste und folgenreichste journalistische Leistung des Jahres. Das Recherchekollektiv Correctiv deckte das Potsdamer „Remigrationstreffen“ von Identitären, Rechtsextremisten und AfD-Politikern auf. Diese Recherche, die solche Schockwellen auslöste, dass in ihrem Nachgang in etlichen deutschen Städten Millionen Bürgerinnen und Bürger auf die Straße gingen, um gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren, hat Correctiv-Reporter Marcus Bensmann dann zwischen zwei Buchdeckel gepackt – erschreckend und lehrreich. Noch besser als das dazugehörige Theaterstück.
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17) Jonathan Eig, Martin Luther King (DVA)

Wie man die Biografie eines Mannes schreibt, von dem die Welt glaubt, schon alles zu wissen, führte eindrucksvoll der Publizist Jonathan Eig am Beispiel von Martin Luther King vor. Anhand von Unmengen neuer Archivmaterialien zeichnete er ein differenziertes Bild des Mannes, der vom Ende des Rassismus in den USA träumte. King war ein Menschenfänger und Charismatiker, aber eben auch Plagiator, Hochstapler, Ehebrecher und Selbstzweifler. Eigs passendes Motto: „Wir brauchen den echten King, nicht den mit Zuckerguss.“
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18) Volker Ullrich, Schicksalsstunden einer Demokratie (Beck)

Vieles erinnerte politische Beobachter derzeit weltweit an die fragile Zwischenkriegszeit nach den Umbrüchen von 1918/19. Damals, so urteilt der Historiker Volker Ullrich, hätten sich die Demokraten nicht klar genug gegen die Extremisten zur Wehr gesetzt. So konnte die Weimarer Republik nicht die nötige Resilienz entwickeln. Allerdings sei deren Scheitern 1932/33 nicht vorgezeichnet gewesen, schreibt Ullrich in seiner fulminanten Tiefenbohrung und hat so implizit einige wichtige und sogar tröstliche Lehren für die heutige Zeit parat – solange man die Extremisten nicht wieder unterschätzt.
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19) Tatjana Tönsmeyer, Unter deutscher Besatzung (Beck)

Bis zu 230 Millionen Menschen mussten zwischen 1939 und 1945 unter deutscher Besatzung zurechtkommen. Die Historikerin Tatjana Tönsmeyer erzählt das konsequent aus der Perspektive der Betroffenen. Sie will den Opfern eine Stimme geben, was zweifellos ausgezeichnet gelingt. Zahllose Aufzeichnungen und Erinnerungen veranschaulichen, wie – auch aktuelle – Kriege die betroffenen Menschen zu Statisten degradierte und zur Passivität zwang. Die nötige Differenzierung zwischen besetzten Ländern in West- und Osteuropa hingegen fehlt an vielen Stellen. Dennoch ein Lehrstück, was passiert, wenn Recht und Humanität verachtet werden.
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20) Bod Woodward, Krieg (Hanser)

Auch Bob Woodward hat es nicht geschafft. Eindringlich warnte der Altmeister der investigativen Recherche vor der Wiederwahl von Donald Trump, indem er etwa dessen enge Verbindungen in den Kreml offenlegte. Das Ergebnis ist bekannt. Aber eigentlich ist „Krieg“ ein Buch über den nun scheidenden US-Präsidenten Joe Biden, den Woodward mit kritischer Sympathie durch diverse politische und persönliche Krisen begleitet hat. Über Donald Trump hat die Reporterlegende bereits mehrere Bücher geschrieben. Von Januar 2025 an könnte ein weiteres folgen.
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