Süddeutsche Zeitung

Politikstil:Andrea Nahles spielt mit der demokratischen Kultur

Die neue SPD-Fraktionsvorsitzende will der Union künftig "in die Fresse geben". Das mag launig gemeint gewesen sein, ist aber keine Lappalie.

Kommentar von Detlef Esslinger

Vier Jahre lang war Andrea Nahles eine vorzügliche Ministerin. Das erkennen selbst jene an, die ihr politisch eher fernstehen. Unter anderem brachte sie den Mindestlohn, die Rente mit 63 sowie das Gesetz zur Tarifeinheit durch. Praktisch all ihre Themen lagen auf dem Minenfeld der großen Koalition, aber dieses durchquerte sie ohne nennenswerte Unfälle, mit großem handwerklichen Geschick.

Nun aber hat sie, sofort an ihrem ersten Tag als SPD-Fraktionsvorsitzende, einer lausigen Pointe zuliebe viel von ihrem Renommée geopfert. Der Volksmund kennt dafür die Redewendung, der zufolge manche Menschen das, was sie sich mit ihrem Kopf aufgebaut haben, mit einem anderen Körperteil wieder einreißen. In Nahles' Diktion fängt dieses Körperteil mit A an; wobei sie vermutlich nicht an "Allerwertester" denkt.

So begeistert war sie von ihrem Versprechen, CDU und CSU von nun an "in die Fresse" zu geben, dass sie es gleich mehrmals gab: im Kabinettssaal, in der SPD-Fraktion und dann, quasi zur Sicherheit, noch vor einem Fernsehmikrofon; damit es auch bloß keiner verpasst. Dazu lachte sie lang und breit und erklärte hinterher, sie habe doch nur einen Scherz gemacht.

Andrea Nahles sagt "Fresse" - so etwas ist keine Lappalie

Was man früher bei den Jusos und auf dem Schulhof halt so für lustig hielt. Davon abgesehen aber hat der Ausdruck "Fresse" noch nie zu den Wörtern gehört, mit denen Gesprächspartner ihren wechselseitigen Respekt gesteigert haben.

Zwar sollen die Unionsminister im Kabinett sogar gelacht haben: weil sie Nahles' fröhliche Körpersprache in dem Augenblick mitbekommen haben, weil sie Profis sind, die wissen, wie so etwas zu nehmen ist. Aber nur die allerwenigsten Deutschen haben das Privileg, Andrea Nahles live im Kabinettssaal zu bestaunen, und es schauen sich auch längst nicht alle ihre Szene im Fernsehen an. Die meisten kriegen nur irgendwie mit, dass die Spitzenpolitikerin einer demokratischen Partei "Fresse" gesagt hat. Es ist aber in der Politik nicht anders als auf Schul- und Hinterhöfen und auf dem Fußballplatz: Meinungsführer setzen und prägen den Stil - mit dem, was sie sagen, und mit dem, wie sie es sagen.

Solche Stilfragen können nur denen egal sein, denen auch die Demokratie im Grunde egal ist; kein Wunder, dass Bedenkenlosigkeit bei der Wortwahl sonst zum Wesenskern der AfD gehört. Es mag ein Unterschied sein, ob Nahles "Fresse" sagt oder Gauland vom "Jagen" spricht. Bei ihr ist es Überschwang, bei ihm hingegen Kalkül: immer so genau formulieren, dass die Sympathisanten präzise wissen, was gemeint ist - und doch dabei so vage bleiben, dass man sich wieder herausreden kann.

Doch solche Unterschiede zu betonen, ist Germanistik für Fortgeschrittene. "Jagen" ist das Wort, das die Leute sich bei Gauland merken sollen, "Fresse" ist das Wort, das sie sich bei Nahles merken werden. Wer diese Wörter benutzt, spielt nicht nur mit seinem Renommée, sondern auch mit der demokratischen Kultur. Und trägt seinen Teil dazu bei, wenn der respektvolle Streit jeden Tag etwas schwieriger wird.

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SZ vom 29.09.2017/jly
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