Süddeutsche Zeitung

Politikersprache:Wenn die richtigen Worte fehlen

"Aufsichtsversagen der genehmigenden Behörde", "umfassend aufklären", "konstruktive Atmosphäre": Die Sprache der Politiker ist voller Phrasen und für den Wähler kaum noch zu verstehen. Aber warum ist das so?

Ole von Beust

Man stelle sich vor: Infolge eines Statikfehlers stürzt in der Stadt Bergenfelde eine Fußgängerbrücke ein. Zehn Personen werden verletzt, davon zwei schwer. Der Bürgermeister gibt rasch eine Mitteilung heraus: "Der Einsturz der Brücke macht mich betroffen. Unsere Gedanken sind bei den Opfern und deren Angehörigen. Jetzt gilt es, schnell und unbürokratisch zu helfen."

Der örtliche Baudezernent erklärt, "ein Aufsichtsversagen der genehmigenden Behörde liegt nicht vor". Demgegenüber betont der Finanzdezernent: Die Finanzaufsicht habe alle Beteiligten rechtzeitig auf Probleme bei der Vergabe der Brückenbauarbeiten hingewiesen.

Die Lokalzeitung kritisiert, dass noch kein Schuldiger für das Unglück gefunden sei. Daraufhin der Bürgermeister: "Nun gilt es, umfassend, ohne Ansehen der Personen, die Ursachen aufzuklären." Eine Kommission werde unverzüglich die Arbeit aufnehmen. Man sei "auf einem guten Weg"; es bräuchte aber eine "neue Kultur der Aufklärung". Nach der ersten Sitzung spricht die Kommission von einem "Gespräch in konstruktiver Atmosphäre".

Drei Monate später: Die Brücke ist eine Ruine, Geld haben die Opfer noch nicht gesehen, die Kommission hat erst einmal getagt, die Presse berichtet über den 500. Stadtgeburtstag. Die Bürger aber denken: Wir sind belogen worden. Beim Regieren und Verwalten geschehen Fehler, auch Unglücke - sie gehören zum Leben. Die Regierenden und Politiker finden jedoch nicht die richtigen Worte für diese Fehler und Unglücke. Sie benennen nicht, sie verbrämen; sie verklausulieren die Wahrheit im Wortschwall einer Insidersprache.

Politik muss das Vertrauen vieler Menschen gewinnen

Nun hat jede Branche ihr eigenes Vokabular, ist in der Kultur alles "großartig", in der Jugendsprache vieles "krass", wird bei Dieter Bohlen "performed", und in der Finanzwelt wird "benchmarked". Jugendliche, Börsenmakler oder Dieter Bohlen sind aber nur bedingt auf das Vertrauen aller angewiesen. Sie können sich selbst genügen. Ihre Ansprüche und Rechtfertigungen definieren und formulieren sie meist innerhalb ihrer eigenen Gruppe.

Die Politik hingegen muss das Vertrauen (nicht unbedingt die Zustimmung) möglichst vieler Menschen gewinnen - bei Wahlen, wenn es um wichtige Projekte wie Flussvertiefungen, neue Landebahnen, Stromtrassen, Straßen geht. Wer die Sprache missbraucht, wer austauschbar, emotionslos und technokratisch formuliert, dem wird nicht vertraut. Dabei werden die Phrasen meist gar nicht in der bösen Absicht der Verkleisterung oder Vertuschung verwendet. Sie sind Ausdruck der Sozialisation in der Politik.

Das liegt zunächst einmal an zwei Dingen: Kein Politiker wird auf Anhieb Spitzenpolitiker. In der Regel dient er sich hoch, meist von der Jugendorganisation über die Kommunalpolitik bis in die höheren Ebenen. Anfänger übernehmen fast zwangsläufig die herrschende Terminologie, um so die eigene Kompetenz zu beweisen (oder vorzutäuschen) - so, wie angehende Mediziner oder Juristen im ersten Semester aus Stolz und Anpassung mit Fachwörtern um sich werfen.

Und dann geht man mit tausendmal gebrauchten Formeln kein Risiko ein. Wer ein schlechtes Wahlergebnis "ehrlich" nennt, geht auf Nummer sicher - würde er von einer Niederlage reden, gar die eigene Trauer, den eigenen Zorn zeigen, gäbe er sich eine Blöße. Ein Verlierer, der sich selber so nennt, verliert Autorität.

Politiker scheuen dieses Risiko. Letztlich ist das ein Reflex auf die veröffentlichte Meinung, auf die Medien. Diese ist nämlich nicht unabhängiger Beobachter der Politiker und des Politbetriebes. Sie sind Bestandteil des Betriebs, sie tragen zur Ritualisierung der Politik bei und bestrafen den, der sich nicht an die Regeln hält. Warum muss eine Regierung nach 100 Tagen im Amt bewertet werden, am besten mit Schulnoten? 100 Tage, das ist ein willkürlicher Zeitraum, meistens lässt sich nach einer derart kurzen Zeit nur wenig über die Arbeit einer Regierung sagen.

Wer sich aber als Politiker dem Ritual verweigert, als Regierungschef nicht die eigene Größe hinausposaunt, als Oppositionsführer nicht die Unfähigkeit der Regierung beklagt, den strafen die Journalisten. Sie nennen dann die Regierung verzagt und die Opposition verschlafen (auch so eine Worthülse); und weil das keiner gerne über sich liest oder hört, machen die Politiker mit und produzieren pünktlich heiße Luft.

Die Falschmeldung ist garantiert

Offenheit gegenüber Journalisten ist ein weiteres Risiko. Wer im Hintergrundgespräch zu deutlich wird, findet sich dann doch im Artikel wieder. In allen Gesprächen vermeide man Ironie: Die Falschmeldung ist garantiert. Journalisten verkürzen und spitzen zu - manchmal, um ein Thema besser verständlich zu machen, oft aber auch, weil es sich so besser verkauft, auch wenn der Sinn auf der Strecke bleibt.

Fotos müssen übrigens immer originell sein. Höchste Vorsicht ist also geboten auf Karnevalsveranstaltungen und im Streichelzoo. Journalisten tun das, weil sie witzig sein, vor ihren Chefs glänzen oder das graue Politikgeschäft bunter machen wollen. Der Reflex der Politik ist jedoch: Bloß nicht spontan sein. Fotos müssen kontrolliert, Interviews umgeschrieben werden; Hintergrundgespräche sind Anlässe zu höchstem Misstrauen.

Die meisten Bürger hätten vermutlich kein Problem damit, wenn Politiker die Floskeln meiden würden, auch um den Preis einer verzerrenden oder künstlich zugespitzten Berichterstattung. Politiker aber erfahren im Regelfall ihre Bewertung nicht durch den normalem Bürger, sondern von Kollegen, Parteifreunden, Journalisten - die Medienmacher sind wichtiger als die Medienkonsumenten. Nur so ist zu erklären, warum die öffentliche Meinung über Karl-Theodor zu Guttenberg oder Christian Wulff lange Zeit so sehr abwich von der veröffentlichten Meinung der politischen Kaste, die Medien eingeschlossen.

Die Journalisten sollten sich dieser Rolle bewusst werden - ihre faire (nicht unkritische!) Berichterstattung trägt dazu bei, dass Politiker ehrlich reden können. Die Politiker wiederum sollten versuchen, sich in ihrer Selbstbewertung nicht an der Politikkaste zu orientieren. Und manchmal hilft einfach positive Ignoranz: Es gibt eben unangenehme Berichterstattung, weil es unangenehm werden kann, offen zu reden. Ändern kann man sowieso nichts. Und oft genug ist alles morgen vergessen.

Ole von Beust (CDU), 57, war neun Jahre Erster Bürgermeister von Hamburg. Heute arbeitet er für eine Unternehmensberatung.

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SZ vom 09.07.2012/sebi
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