"Einen Moment", sagt Thomas Purwin, dreht sich zu seinem Rechner und drückt auf der Maus herum, "hier nicht, und hier auch nicht". Es sind also keine neuen Mails eingangen in den vergangenen fünf Minuten, die ihn oder seine Familie mit dem Tode bedrohen. Keine neue Nachricht ist eine gute Nachricht für Purwin. Die schlechte für Bocholt und vielleicht auch ein wenig für das ganze Land ist, dass Purwin sich nicht mehr abbringen lassen will von seinem Entschluss, die Politik zu verlassen, als SPD-Chef von Bocholt zurückzutreten.
"Wenn auch die Familie bedroht wird, ist eine Grenze überschritten", sagt Purwin. Er sieht sehr freundlich aus, wenn er das sagt. Purwin sitzt in seinem Amtszimmer im Standesamt von Bocholt, er hat es sich gemütlich gemacht, an der Wand hängt ein Wimpel von Schalke und die Postkarten aus dem Urlaub. Aus dem Fenster schaut er auf den Weihnachtsmarkt und auf eine Stadt, die genau so einen gemütlichen Eindruck macht wie Thomas Purwin und sein Amtszimmer: Bocholt, 70 000 Einwohner, schöne Innenstadt und eine Arbeitslosenquote von 4,3 Prozent.
Purwin hat mit den Flüchtlingsgegnern diskutiert
Woher kommt also all der Hass? "Tja", sagt Thomas Purwin, 35. Angefangen hat es mit der Flüchtlingswelle, die Ende vergangenen Jahres nach Deutschland kam. Etwa 600 sind zurzeit in Bocholt untergebracht. "Die Hilfsbereitschaft ist groß", sagt Purwin. Es haben aber nicht alle die Neuankömmlinge freudig begrüßt und Purwin hat versucht, mit denen zu diskutieren, die dagegen waren, auf der Straße und auf Facebook.
"Wenn jemand gesagt hat, die Flüchtlinge bekommen eine Vollversorgung und ich als Rentner nichts, dann habe ich versucht dem klarzumachen, dass die Flüchtlinge keineswegs so reich beschenkt werden wie manche glauben." Manche konnte er umstimmen, anderen gefiel nicht, was er da tat. Die Hass-Mails begannen, fast täglich trafen Drohungen ein, erst nur auf seiner dienstlichen Adresse, dann auch auf der privaten. Manche waren mit "Adolf Hitler" unterzeichnet, mit der Drohung, ihm den "Judenschädel abzuschlagen".
Auch der Bürgermeister in Bocholt bekam Drohungen, ebenso der Kämmerer. Im Oktober waren es so viele, dass sich Purwin entschloss, den SPD-Parteitag abzusagen, zum Ersatztermin im Februar wollte auch SPD-Parteichef Sigmar Gabriel kommen.
Thomas Purwin wird dann höchstens als Gast anwesend sein. "Ich habe mich nicht gegen die Politik entschieden, sondern für die Familie", sagt er. Die anonymen Drohungen hatten sich zuletzt auch gegen seine Tochter gerichtet.
Purwin ist nicht der Einzige, der bedroht wird
Seitdem haben sich Spitzenpolitiker aller Parteien zu Wort gemeldet, mitfühlend und erschrocken. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass Purwin in den gut zehn Jahren in der SPD nie so viel Aufmerksamkeit bekommen hat wie für seinen Rücktritt. Der vielleicht auch eine Niederlage ist. Für Purwin und den Staat, der seine Politiker nicht mehr schützen kann. "Vielleicht bewegt sich aber auch etwas, weil jetzt alle mal mitbekommen, was wir kleinen Kommunalpolitiker alles abkriegen", sagt Purwin. Er hat sich ausgestempelt im Standesamt für das Gespräch, die Morddrohungen sind Privatsache, sind außerhalb der Dienstzeit zu verarbeiten.
Purwin ist nicht der Einzige, der bedroht wird. Allein in Nordrhein-Westfalen sind von Januar bis Ende September dieses Jahres 115 politisch motivierte Straftaten gegenüber Politikern verübt worden, teilt das Landeskriminalamt mit. Der Städte- und Gemeindebund will "Politiker-Stalking" zu einem Straftatbestand machen. "Wenn es uns nicht gelingt, die Menschen zu schützen, die sich vor Ort für die lokale Demokratie und ein funktionierendes Gemeinwesen einsetzen, gefährden wir die demokratische Kultur in unserem Land", sagt Hauptgeschäftsführer Bernd Jürgen Schneider.
Es ist auch heute schon verboten, Menschen mit dem Tode zu bedrohen. Im Fall von Thomas Purwin ermittelt der Staatsschutz, bei einem 46-Jährigen gab es eine Hausdurchsuchung, ein Tatverdacht erhärtete sich nicht. "Die Server stehen alle im Ausland, da kommt man nur schwer ran", sagt Purwin. Er zuckt mit den Schultern, was soll man machen? Er hat sich für den Rücktritt entschieden. "Ich werde die Politik vermissen." Und viele in Bocholt vermissen ihn schon jetzt.