Max Weber hat 1919 eine Jahrhundert-Rede gehalten. Sie heißt "Politik als Beruf", und man greift gern zu diesem alten und schönen Text, wenn mal wieder ein Spitzenpolitiker seinen Beruf aufgegeben hat. Man sucht und findet am Ende dieser Rede Webers berühmten Satz über Politik. Sie sei ein "starkes und langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich".
Ole von Beust tritt zurück:Der Nächste, bitte
Ole von Beust ist Chef der ersten schwarz-grünen Koalition in Deutschland. Eine politische Karriere in Bildern.
Und auf einmal wird man melancholisch. Man entdeckt nämlich, was einem vorher gar nicht so aufgefallen war: dass der Zurückgetretene diese Vorgabe Max Webers eigentlich ganz gut verkörpert hat. Nun gut: nicht unbedingt bei jedem der zurückgetretenen Regierungschefs war das so, aber wohl doch bei Roland Koch und Ole von Beust.
Bei Koch war es mehr die Leidenschaft, bei Beust vielleicht eher das Augenmaß. Und gebohrt haben sie beide ziemlich lange: Koch war mehr als ein Jahrzehnt lang Regierungschef, Beust fast ein Jahrzehnt lang, und beide haben an die drei Jahrzehnte in der Politik hinter sich. Ist das zu wenig?
Es gehört offenbar zum Schicksal eines Politikers, dass er es allen kaum je recht machen kann: Zeigt er zu heftig, wie viel Freude ihm das Amt macht, versucht er also, mit aller Macht und mit vielen Mitteln, sich in diesem Amt zu halten - dann gilt er als einer, der am Sessel klebt, der nichts anderes gelernt hat, der sich ein Leben außerhalb der Politik nicht vorstellen kann und schon daher für die Politik eigentlich nicht geeignet sei. Sagt er aber, dass es nun, nach doch sehr vielen Jahren in der Politik, genug sei, dann wirft man ihm die Flucht aus der Verantwortung und noch Schlimmeres vor.
Es gibt eine Dialektik des Vorurteils: Solange die Leute im Amt sind, wird ihnen angekreidet, dass sie vor allem von der Politik, aber nicht für die Politik leben. Wenn sie dann unerwartet früh abtreten, wird ihnen vorgehalten, dass sie offenbar doch nicht wirklich "für die Politik" gelebt hätten.
Muss ein Berufspolitiker sein Leben lang Politiker sein wollen, um ein guter Politiker zu sein? Oder darf er (was in anderen Berufen selbstverständlich ist, ja verlangt wird) seinen Beruf wechseln? Erhard Eppler, der kluge alte Mann der SPD, hat die Befürchtung, dass so ein frühzeitiger Rückzug aus der Politik "das entwertet, was man vorher gemacht hat". Es sei ein Indiz dafür, dass eine Partei "keinen Gestaltungsauftrag mehr" spüre, wenn viele ihrer Politiker in die Wirtschaft wechseln.
Ist ein Politiker nur dann glaubwürdig, wenn er mit Luther "Hier stehe ich, ich kann nicht anders" sagt? Oder kann und darf er nach zwei Jahrzehnten auch sagen: "Hier stehe ich, ich kann auch anders"?
Es wird von einem "Exodus" von Spitzenpolitikern der CDU geredet. Dabei werden die sechs Fälle, die dann aufgezählt werden, über einen Kamm geschoren. Rücktritt ist aber nicht gleich Rücktritt. Der thüringische Ministerpräsident Dieter Althaus musste zurücktreten, weil er einen tödlichen Skiunfall verursacht hatte. Sein Rücktritt war auch in seiner Partei gefordert worden; diese hätte sich schön angeschaut, wenn der Mann weitergemacht hätte.
CDU-Hoffnungsträger:Auf dem Weg nach oben
Koch, Wulff, Althaus, Oettinger, Rüttgers: Die Liste der CDU-Platzhirsche, die sich aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen haben, ist lang. Wir stellen Politiker vor, die von der Bewegung in der Partei-Hierarchie profitieren könnten.
Günther Oettinger, der baden-württembergische Ministerpräsident, ist nicht aus der Politik geflüchtet, sondern er macht sie nun anderswo, an höherer Stelle, nämlich in Brüssel statt in Stuttgart. Christian Wulff, der niedersächsische Ministerpräsident, ist ins höchste Staatsamt berufen worden. Was wäre wohl über ihn gesagt worden, wenn er das Amt abgelehnt hätte? Er wäre als machtgeiler Merkel-Gegner dargestellt worden, der ins Kanzleramt drängen würde. Jürgen Rüttgers schließlich, der nordrhein-westfälische Ministerpräsident, ist abgewählt worden. Wenn er sich trotzdem am Fraktions- und Landesvorsitz der CDU festgekrallt hätte, dann wäre ihm nachgesagt worden, dass er nicht verlieren und nicht loslassen könne.
"Aufhören, wenn's am schönsten ist"
Bleiben Koch und Beust: Beide sind Mitte fünfzig, also noch nicht zu alt für etwas Neues. "Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist", sagt die Großmutter-Weisheit. Beide Politiker hatten sicher schon schönere Zeiten gesehen, aber sie waren in ihrer Partei und in ihrer Regierung immer noch unangefochten. Sie treten ab in einer Zeit, in der sie allgemein als starke Politiker gelten. Ob es besser ist, darauf zu warten, dass man als schwach gehandelt wird?
Koch ist es freilich, im Gegensatz zu Beust, gelungen, seinen Rücktritt als wohlgeordneten Rückzug zu gestalten. Bei Beust war es so, dass die Gerüchte, die er selbst bediente, erst die Bühne errichtet haben, auf der er dann abgetreten ist. Aber beide Regierungschefs ziehen sich geraume Zeit vor dem Ende der Legislaturperiode zurück. Sie geben also ihren Nachfolgern die Chance, sich zu profilieren.
Von der bürgerlichen "Null-Bock-Generation" an Politikern spricht die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth. Das ist hübsch formuliert. Kann man aber Politikern, die drei Jahrzehnte lang geackert haben, Bequemlichkeit vorwerfen? Erhard Eppler urteilt, dass ein Ausstieg aus der Politik à la Koch und à la Beust in den ersten drei Jahrzehnten nach dem Krieg nicht denkbar gewesen wäre. Damals sei man mit dem Gefühl in die Politik gegangen: "Das, was man mit uns gemacht hat, das darf man mit unseren Kindern und Enkeln nicht mehr machen." Und das sei eben "ein lebenslanger Auftrag" gewesen.
Damals. Es hat sich viel geändert seit damals. Politik ist hektischer geworden, der Umgang mir ihr kritischer, der Weg in die Wirtschaft verlockender - dort gibt es viel mehr Geld, viel weniger öffentliche Beobachtung und viel weniger Kritik. Viele wechseln daher von der Politik in die Wirtschaft, kaum jemand wechselt von der Wirtschaft in die Politik.
"Nur wer sicher ist, dass er nicht zerbricht, wenn die Welt, von seinem Standpunkt aus gesehen, zu dumm oder zu gemein ist für das, was er bieten will - nur der hat den 'Beruf' für Politik", hat Max Weber gesagt. Das klingt so, als habe er Politik doch als Berufung betrachtet.