"Wir haben es euch doch gleich gesagt." Was ist befriedigender, als dieser Satz, als der Moment, in dem klar wird: Jemand, der für seine Aussagen stets belächelt wurde, hat doch recht. Anke Domscheit-Berg, 45 Jahre alt, und ihr Mann Daniel, 35 Jahre alt, erleben diesen Moment gerade.
"Wenn mich meine Mutter früher am Telefon gefragt hat, was ich so mache, und ich geantwortet habe: Nichts, worüber ich hier offen sprechen könnte, dann hab ich gemerkt, dass sie insgeheim dachte: Der hat doch einen Schatten", sagt Daniel Domscheit-Berg, der als Sprecher der Enthüllungsplattform Wikileaks bekannt wurde, bevor er sich mit deren Gallionsfigur Julian Assange gründlich überwarf.
Inzwischen sei das anders, auch seine Mutter hat sich längst dafür entschuldigt, dass sie ihn einst belächelte. Der NSA-Abhörskandal gibt Leuten wie ihm, die lange als paranoide Verschwörungstheoretiker verspottet wurden, recht. Domscheit-Berg ist keiner, der seinen Triumph laut herausposaunt. Er redet leise, sachlich, lächelt zurückhaltend. Das, was er sagt, passt eigentlich nicht so recht zur idyllischen Kulisse des Gesprächs: Die Domscheit-Bergs wohnen auf dem Land in Brandenburg, die Sonne bringt den Schokokuchen auf dem Gartentisch zum schmelzen, es gibt türkischen Kaffee. Da wirkt es fast unwirklich, wenn Domscheit-Berg vor einem Überwachungsstaat warnt, vor außer Kontrolle geratenen Geheimdiensten. NSA, Angela Merkel, Barack Obama, Wahlkampf - all das wirkt unendlich weit weg.
Eine hippieske Umgebung also für ein Paar, dessen Leben ganz unhippiemäßig mit dem digitalen Wandel, also mit Technik, verbunden ist: Die beiden gehören zu den bekanntesten Internet-Aktivisten Deutschlands. Anke Domscheit-Berg arbeitete einst für Microsoft, inzwischen ist sie selbstständig, während Daniel Domscheit-Berg sich nach seinem Ausstieg bei Wikileaks eher zurückgezogen hatte. Sein Alternativ-Projekt Open Leaks zündete nie.
Ihr Kernthema ist schwer vermittelbar
Aber nun ist da eben der Überwachungs-Skandal, der beide gleichermaßen aufregt und der sie gleichzeitig noch prominenter als zuvor in die Medien katapultierte. In gefühlt jeder Talkshow, die es zum Thema gab, saß einer der beiden Domscheit-Bergs. Der Branchendienst Meedia lobte Daniel als " der beste Erklärer in Sachen Abhör-Aktivitäten der USA und Internet-Sicherheit". Anke veröffentlicht bald ein Buch, in dem sie einen Bogen von ihrem politischen Engagement zu DDR-Zeiten bis hin zur Piratenpartei schlägt. Doch einen Haken hat die Sache: Wenngleich das Ehepaar enorm von der Debatte profitiert - ihre Partei, die Piraten, kommt in den Umfragen über die drei Prozent nicht hinweg.
"Mich macht das ratlos und verzweifelt, ich kann mir das nicht erklären", sagt Anke Domscheit-Berg. Ihr Mann hingegen lacht auf. "Grundrechte sind den Leuten eben nicht so wichtig wie die Frage: Wie kriege ich meine Wurst aufs Brot?" Das Thema sei eben für viele schwammig, abstrakt, die wahre Tragweite schwer vermittelbar. Zudem hätten viele Menschen andere Probleme, da erscheine diese Debatte wie Luxus.
Sie will das nicht so stehen lassen, hakt ein, wie beim Ping-Pong fliegen die Argumente hin und her. Anke Domscheit-Berg hat die Rolle der überzeugten Idealistin, er bremst sie hin und wieder ein. Der Schlagabtausch wirkt wie ein gewohntes Spiel. Sie spricht mehr als er, der immer wieder aufsteht, noch eben Abendessen einkauft, im Haus herumwerkelt und dann nach einer Weile wieder zurück kommt an den Gartentisch. Auch bei den Piraten hielt er sich bis zur NSA-Affäre eher im Hintergrund, überließ ihr die Bühne.
Das ist auch an diesem Nachmittag so. Heutzutage spiele sich doch für viele Leute ihr gesamtes Leben im Netz ab, empört sie sich. Da müsse es den Menschen doch zu erklären sein, was Überwachung bedeutet. Nämlich, dass jemand ungefragt in die eigene Wohnung spaziert und sich durch die Schränke wühlt. "Alles, was früher in Schachteln im Keller lag, ist heute doch in der digitalen Welt!", ruft sie.
Daniel nickt und ergänzt, wieder ganz der Skeptiker: "Viele Leute haben da so ein Urvertrauen in den Staat." Ein ungesundes Urvertrauen, das erst noch erschüttert werden muss, so suggeriert es das Aktivisten-Paar. Gleichzeitig widerspricht keiner der beiden der Feststellung: Bis zur Bundestagswahl wird es damit wohl nicht mehr klappen.
Aber was bedeutet das nun für ihre Partei, deren Kernthema nun einmal der digitale Wandel in all seinen Facetten ist? Sie versucht, so erklärt es Anke Domscheit-Berg, mit anderen Themen zu punkten: soziale Gerechtigkeit zum Beispiel.
Nicht nur die Piraten legen hier einen Schwerpunkt, vor allem die Parteien links der Mitte versuchen mit sozialer Gerechtigkeit zu punkten. SPD, Grüne und Linkspartei fordern zum Beispiel einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Auch die Leiharbeit möchten alle Oppositionsparteien eindämmen, dazu fordern sie Steuererhöhungen unterschiedlicher Ausprägung, also Umverteilung von Oben nach Unten. Soweit, so klassisch.
Die Piraten unterscheiden sich von den anderen vor allem mit einer Forderung: der nach dem bedingungslosen Grundeinkommen (BGE). Ein konkretes Modell will die Partei durch eine Enquete-Kommission erarbeiten lassen, doch die Idee dahinter ist in groben Zügen: Jeder, unabhängig vom Alter oder von der Tatsache, was und ob er arbeitet, soll ein Sockeleinkommen erhalten, von dem sich leben lässt. Der Unternehmer Götz Werner propagiert das BGE seit Jahren. Die Grünen und die Linken haben schon intensiv über seine Einführung diskutiert - die Piraten haben die Forderung jedoch als einzige im Wahlprogramm stehen.
"Wir müssen uns fragen: Warum ist das so, dass der Wert des Menschen in unserer Gesellschaft davon abhängt, welchen Lohnerwerb er hat?", umschreibt Anke Domscheit-Berg die Position ihrer Partei.
Aber ist das wirklich der richtige Zeitpunkt, das System der Lohnerwerbstätigkeit grundsätzlich in Frage zu stellen, wenn die meisten Leute ganz froh sind, einen Job zu haben, der sie ernährt? Gerade die junge Generation, als deren Vertreter sich die Piraten sehen, misst den Wert eines Menschen vor allem an dessen Leistungsbereitschaft und der Fähigkeit, hart zu arbeiten. Das ergab zum Beispiel die jüngste Shell Jugendstudie. Domscheit-Berg glaubt dennoch, dass ein Umdenken bevorsteht. "Es gibt Soziologen, die sagen: Alle 40 Jahre gibt es einen großen Aufstand. Der letzte war in Deutschland 1968. Es wäre also an der Zeit, dass bald wieder etwas passiert." Allerdings, das suggerieren die hohen Zustimmungswerte für Angela Merkels Weiter-so-Politik, wohl nicht bei der Wahl am 22. September.
Strukturen, die bremsen
Anke Domscheit-Berg sieht die Piraten hier als Visionäre, die Ideen in den politischen Diskurs einbringen, die in die Zukunft weisen - anders als die anderen Parteien, die ihrer Meinung nach im Status quo verharren. Die Parteimitglieder präsentieren sich gern als Vordenker einer global vernetzten Gesellschaft und hatten doch seit ihrem rasanten Aufstieg in den Jahren 2011 und 2012 mit den üblichen Problemen politischer Newcomer zu kämpfen: Macht- und Verteilungskämpfe, eine chaotische Kommunikationsstruktur und inhaltlichen Flügelkämpfen.
Sie stecken immer noch im typischen Dilemma derer, die sich zwar nicht an die Regeln des Spiels halten, aber dennoch mitspielen wollen. Und auch dafür sind Anke und Daniel Domscheit-Berg beispielhaft. Nach allen Regeln des politischen Betriebs wären sie in jeder anderen Partei längst zu Aushängeschildern geworden. Als "Politpaar unserer digitalen Zeit" hat die Zeit sie kürzlich bezeichnet. Doch die Piraten haben zu ihren Promis ein eher gespaltenes Verhältnis.
Vor allem Anke Domscheit-Berg hat es schwer in der Partei. Viele ihrer gewählten Vertreter waren zwar froh, als die Aktivistin im vergangenen Jahr von den Grünen zu den Piraten kam. Ihre Themen - Open Government, Transparenz, Datenschutz - passen schließlich gut zu der selbsternannten Internet-Partei. Noch dazu war Domscheit-Berg schon länger in der Netzszene aktiv und anerkannt, talkshowerfahren und eloquent.
Doch ungeachtet der inhaltlichen Überschneidungen wurde die Feministin in Online-Kommentaren regelmäßig als grünes U-Boot beschimpft. Und als machtgierig, weil sie sich gleich nach ihrem Eintritt um Platz eins der Brandenburger Landesliste für die Bundestagswahl beworben hat. Das haben zwar andere auch, der bayerische Spitzenkandidat Bruno Kramm zum Beispiel, der Anfang 2012 von den Grünen zu den Piraten kam, eigentlich ganz ähnliche Positionen vertritt wie Anke Domscheit-Berg - und der sofort auf Platz eins der bayerischen Bundestagsliste gewählt wurde.
Bei Domscheit-Berg hingegen reichte es nur für Platz zwei der Landesliste. Acht Prozent der Stimmen müssten die Piraten bekommen, damit sie im Bundestag landen würden. Unwahrscheinlich, dass das passiert. Noch vor wenigen Wochen warf ihr der Pressesprecher ihres Landesverbands vor, in der DDR mitnichten in der Bürgerbewegung aktiv gewesen, sondern es sich auf der Seite des Systems als FDJ-Sekretärin bequem gemacht zu haben. Als sich das Paar nun gemeinsam für den Landesvorsitz in Brandenburg bewarb, sie als Vorsitzende, er als Geschäftsführer, hieß es auch wieder: Die wollen die Brandenburger Piraten übernehmen. Anke Domscheit-Berg erhielt am Ende 32 von 63 Stimmen.
Da müsse man halt durch, sagt Daniel Domscheit-Berg abwiegelnd. Anke widerspricht. "Das demotiviert doch viele, die durch dieses Tal der Tränen eben nicht durchwollen. Vor allem Frauen." Die Ablehnung und das Misstrauen, das ihr entgegenschlug, fressen bis heute sichtlich an ihr. Warum sie trotzdem dabei bleibt? "Ich bin Mitglied der Piraten geworden, weil sich die Inhalte mit meinen Überzeugungen am meisten decken", sagt sie.
Es geht um Einfluss
Den Kritikern des Ehepaars - so viel lässt sich erahnen - geht es aber weniger um die Inhalte, als um das Auftreten der beiden. Die Domscheit-Bergs wirken ein bisschen wie ein sorgsam inszeniertes Gesamtkunstwerk, wie sie da sitzen in ihrem Garten in der brandenburgischen Provinz, und über die unendlichen Möglichkeiten eines freien Internets philosophieren. Das große Haus mit den hellen Zimmern, der perfekt unordentliche Garten, die Art, wie sie sich in den Gesprächen ergänzen - würde ein Autor das Aktivisten-Paar für ein Drehbuch erfinden, er müsste sich den Vorwurf gefallen lassen, ein bisschen übertrieben zu haben mit der Stimmigkeit, der Harmonie und dem einhelligen Idealismus, den die beiden ausstrahlen - ungeachtet dessen, dass ihr Engagement tatsächlich glaubhaft ist. Bewundernde Artikel wie der in der Zeit verstärken diesen Effekt, sehr zum Ärger mancher Piraten, die zu den Medien ein eher gespaltenes Verhältnis haben.
Die Domscheit-Bergs streiten nicht ab, dass es ihnen um Einfluss geht, für sie ist das Streben nach Macht nicht grundsätzlich negativ besetzt - anders als für viele Piraten. Sie wissen um ihre Schlagfertigkeit, um ihre mediale Wirkung, jeder ihrer Sätze, jeder Schlagabtausch zwischen ihr, der Idealistin, und ihm, dem Skeptiker, wirkt wohlüberlegt. Die beiden wollen mehr als nur irgendein Pöstchen. Sie wollen gehört werden.
Gerade für viele Piraten muss eben dieses geschlossene Auftreten wie eine Provokation wirken, denn eigentlich ist die Partei stolz darauf, unfertig zu sein, ein demokratisches Projekt, dessen Richtung erst noch festgelegt werden muss. Von allen zusammen. Von der grundsätzlich skeptischen Haltung zu persönlichem Machtstreben ganz zu Schweigen. Die Piraten wollen unideologisch sein und vor allem wollen sie sich unterscheiden von jenen, die sich in Talkrunden mit den immer selben Kontrahenten streiten, in perfekter Aufmachung perfekte Reden halten. "Aber inzwischen ist man doch froh, dass es Leute gibt, die das können", sagt Anke Domscheit-Berg.
Und so tingelt sie durch die Talkshows, wirbt in Brandenburg für das bedingungslose Grundeinkommen, spricht in München über Überwachung, hält Reden auf Konferenzen und Kundgebungen. Sie entspricht den Anforderungen, die auch an mächtige Menschen gestellt werden bis aufs Letzte, ist telegen, eloquent, mit starker, eingängiger Botschaft. Eine perfekte Politikerin. Allerdings in einer Partei, die nicht perfekt sein will.