Wahl: Politiker des Jahres:Deutschlands Auf- und Anreger

2010 hatte es in sich: Wildsäue und Gurkentruppen, Migrationskritiker und Anti-Hysteriker bestimmten die Debatten. Doch welcher Politiker hat das Jahr am meisten geprägt? Stimmen Sie ab!

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Sarrazin von Vorstandsposten bei der Bundesbank zurueckgetreten

Quelle: dapd

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Deutschland schafft sich ab lautet seine These, und Thilo Sarrazin unterfütterte sie in seinem gleichnamigen Buch mit zahlreichen Statistiken. Dass sie Zusammenhänge zwischen Migration, Intelligenz und demographischer Entwicklung in Deutschland belegen sollen, wo zum Teil aber keine sind, störte weder den Autoren noch die Leser, die sein Buch zu einem Bestseller machten. Sarrazin verdiente Millionen mit seinem Werk.

Das Erfolgsrezept war womöglich, dass man das Buch nicht gelesen haben muss, um darüber zu diskutieren. Schon bevor das Werk in den Buchhandlungen auslag, waren Sarrazins Ansichten zu Islam und Migration in aller Munde. Seine Kritiker wurden bei der Podiumsdiskussion in der Münchner Reithalle und anderswo vom Publikum niedergebuht. Dass Sarrazin aus dem Vorstand der Bundesbank verbannt wurde und ihm der Ausschluss aus der SPD droht, wird er verschmerzen können. Wie sagte er in München? "Nach den sechs Wochen öffentlichen Fegefeuers bin ich umso froher, dass ich das Buch geschrieben habe."

Spitzenpolitiker wollen in den Weihnachtsferien vor allem Ruhe haben und ausspannen

Quelle: dapd

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Auch der x-te schwarz-gelbe Neustart war gescheitert, CSU und FDP beschimpften sich als "Wildsau" und "Gurkentruppe". Da überlegte sich Angela Merkel im Sommerurlaub eine neue Strategie: Sie wolle weniger moderierend auftreten und mehr Machtworte sprechen. Es folgte ein "Herbst der Entscheidungen", der sich für die Bundeskanzlerin günstig entwickelte: Die Laufzeiten für Atomkraftwerke wurden verlängert, die Gesundheitsreform durchgeboxt, die Wehrpflicht wird 2011 ausgesetzt und Heiner Geißler gab als Schlichter dem umstrittenen Bahnhofs-Neubau Stuttgart 21 sein Plazet. Zuvor hatten sich einige gefährliche Konkurrenten verabschiedet: Roland Koch, Ole von Beust und Christian Wulff gaben ihre politischen Ambitionen weitgehend auf.

Auf ein problemloses Jahr 2010 kann Merkel dennoch nicht zurückblicken: Die heftigen Anti-Atom-Proteste, durchgehend hohe Zustimmungswerte der Grünen und der Niedergang des Lieblings-Koalitionspartners FDP lassen die Union bangen. 2011 könnte sich für Angela Merkel unruhig gestalten - spätestens ab März, wenn in Baden-Württemberg ein neuer Landtag gewählt wird.

SPD - Hannelore Kraft

Quelle: dpa

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Hannelore Kraft wurden geringe Chancen eingeräumt, als sie anstrebte, Jürgen Rüttgers als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen abzulösen. Zu sattelfest erschien der CDU-Amtsinhaber, der sich im einstigen Stammland der SPD als Nachfolger von Johannes Rau profiliert hatte und in Berlin die Stimme für die sozial Benachteiligten erhob. Doch die SPD-Spitzenkandidatin punktete mit ihrer direkten Art und profitierte überdies davon, dass ein Bündnis aus Bloggern und investigativen Journalisten zweifelhafte Methoden der schwarz-gelben Regierung aufdeckte.

Das "System Rüttgers" war bald in aller Munde - und der CDU-Landesvater im Mai tatsächlich abgewählt. Weil er nicht von der Parteispitze lassen wollte, schied eine große Koalition als Möglichkeit aus. Hannelore Kraft zierte sich, dann wagte sie das Experiment einer rot-grünen Minderheitsregierung - mit Erfolg: Sie ist die erste Ministerpräsidentin Nordrhein-Westfalens und seit Oktober auch erste Präsidentin des Bundesrats.

Liberale Landespolitiker bedraengen Westerwelle

Quelle: dapd

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Im Februar 2010 tat sich Guido Westerwelle als Sozialpolitiker hervor: Die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze ließ ihn vor "spätrömischer Dekadenz" warnen. Dafür bezog Westerwelle viel verbale Prügel, und auch den Umfragewerten der FDP bekam die Debatte nicht allzu gut. Weil die Partei zudem viele ihrer Wahlversprechen einkassieren musste, zum Teil wegen heftigen Widerstands der Union, schrumpfte die Zustimmung im Wahlvolk gegen Ende des Jahres auf unter fünf Prozent.

Westerwelle hatte sich da längst auf seine Hauptaufgaben als Parteichef und Außenminister konzentriert. Doch in den Augen seiner Kritiker sind selbst diese beiden Ämter zu viel für den bald 49-Jährigen. Der Fraktionsvorsitzende der schleswig-holsteinischen FDP, Wolfgang Kubicki, fühlt sich angesichts der Entwicklung der FDP an den Zerfall der DDR erinnert, viele Liberale aus der zweiten Reihe fordern Westerwelle zum Rücktritt auf. Der jedoch weigert sich - und will mit einer Ruck-Rede beim Dreikönigstreffen am 6. Januar in Stuttgart die Wende schaffen.

Gespräch mit Thomas de Maiziere

Quelle: dpa

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Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Wolfgang Schäuble hatte sich Bundesinnenminister Thomas de Maizière mit Terrorwarnungen stets zurückgehalten. Umso größer war das Aufsehen, als der "Anti-Hysteriker" (Die Zeit) im November erklärte, es gebe konkrete Hinweise auf Anschläge in Deutschland. Die Polizei verstärkte daraufhin ihre Präsenz an Bahnhöfen und Flughäfen, die zufällig zum gleichen Zeitpunkt tagende Konferenz der Landesinnenminister entwickelte sich zu einer Art Krisenstab.

Nachdem das Terrornetzwerk al-Qaida Ende Oktober Bomben in Luftfracht-Paketen versteckt hatte, die von Sicherheitsbehörden rechtzeitig entschärft werden konnten, schien die Lage bedrohlich zu sein. Datenschützer rechneten es de Maizière hoch an, dass er Rufen nach einer neuen Vorratsdatenspeicherung trotzdem eine Absage erteilte. Kritik am Innenminister kam jedoch auf, als er nach dem Fund einer vermeintlichen Kofferbombe in Namibia tagelang keine konkreten Informationen zu dem verdächtigen Gepäckstück geben konnte. De Maizière verkündete zunächst, es habe mit hoher Wahrscheinlichkeit nach München fliegen sollen. Letztlich stellte es sich als ungefährliches Testgerät ohne Adressierung heraus.

Immer wieder unerwünscht: Sebastian Frankenberger erhält von Wirten öfter Lokalverbot.

Quelle: dapd

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Wahl: Politiker des Jahres:Immer wieder unerwünscht: Sebastian Frankenberger erhält von Wirten öfter Lokalverbot.

Ein Mann verändert Bayern: Sebastian Frankenberger war der Kopf der Initiative "Für echten Nichtraucherschutz!", die im Juli 2010 in einen Volksentscheid mündete: 61 Prozent der Teilnehmer stimmten mit Ja, 39 Prozent mit Nein. Damit bekam Bayern ein rigides Rauchverbot in der Gastronomie - und Frankenberger wurde berühmt; Raucher sagen: berüchtigt.

Er allein habe geschafft, woran die CSU verzweifelt war, sagen seine Anhänger. Seine Kritiker werfen ihm vor, die Liberalitas Bavariae, die Freiheit der Bayern, auf dem Gewissen zu haben. Frankenberger polarisiert: Nach dem erfolgreichen Volksentscheid ließ er sich in einem Bierzelt filmen. Der Wirt setzte ihn vor die Tür. Im November wählte die Ökologisch-Demokratische Partei Frankenberger zu ihrem  Bundesvorsitzenden. Für 2011 sind weitere medienwirksame Auftritte zu erwarten.

Germany's President Christian Wulff chats with Hayrunnisa Gul, wife of Turkey's President Abdullah Gul, as they pose during a welcoming ceremony at the Presidential Palace of Cankaya in Ankara

Quelle: Reuters

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Christian Wulff erlebte keinen guten Start als Bundespräsident. In der Bundesversammlung brauchte der Kandidat der Kanzlerin am 30. Juni drei Wahlgänge, bis er als Nachfolger des zurückgetretenen Horst Köhler feststand. Viele aus dem schwarz-gelben Lager wollten Angela Merkel offenkundig einen Denkzettel verpassen, andere favorisierten den rot-grünen Kandidaten Joachim Gauck, der in der Bevölkerung den größeren Rückhalt zu haben schien.

Kaum im Amt, leistete sich Wulff einige Fehltritte: Er machte Urlaub in der Villa eines befreundeten Unternehmers, versprach Fußball-Bundestrainer Joachim Löw populistisch das Bundesverdienstkreuz und stellte sich im Streit um Thilo Sarrazin ausdrücklich gegen den Bundesbanker, obwohl sein Amt Neutralität fordert. Bei seinen Reisen in die Türkei und nach Israel konnte Wulff jedoch Sympathiepunkte sammeln. Viel Respekt erhielt der Präsident für seine Rede zur Integrationsdebatte ("Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland"). Die Süddeutsche Zeitung lobte: "Hinter seinen Ideen kann sich die Nation versammeln."

Im Bild: Wulff mit der türkischen Präsidentengattin Hayrünnisa Gül während seines Staatsbesuchs im Oktober 2010.

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Quelle: AFP

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Wo er ist, ist vorne: Der CSU-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg führt auch 2010 die Rangliste der beliebtesten Volksvertreter an. Politisch punktete er durch die für 2011 geplante Aussetzung der Wehrpflicht, die seine Partei lange strikt abgelehnt hatte. Auch die Reform der Bundeswehr bringt er voran. Der Untersuchungsausschuss zum Luftangriff auf zwei Tanklaster in Kundus im Jahr 2009 bekam ihm nicht so gut. Guttenberg wird vorgehalten, den Bundeswehr-Generalinspekteur Schneiderhan vorschnell entlassen zu haben. Sein guter Ruf hat durch die Affäre jedoch keinen Schaden genommen.

Seit CSU-Parteichef Horst Seehofer angesichts schlechter Umfragewerte in Bedrängnis geraten ist, liebäugeln viele Mitglieder mit einem Putsch zugunsten Guttenbergs. Der konzentriert sich jedoch lieber auf seine Karriere als Minister. Bei seinen Truppenbesuchen in Afghanistan erwies sich Guttenberg weiter als Meister der Selbstinszenierung. Dabei geht es ihm, wie er sagt, darum, Aufmerksamkeit auf die Soldaten zu lenken. Als er Mitte Dezember in Begleitung seiner Frau und des Fernsehmoderators Johannes B. Kerner nach Kundus reiste, warf ihm die Opposition jedoch vor, die Gefahren des Krieges zu banalisieren.

Klaus Ernst und Gesine Loetzsch bei einem Fototermin im Bundestag in Berlin

Quelle: action press

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Es war eines der beherrschenden Themen des Sommerlochs 2010: Klaus Ernst und die Frage, wie viel Luxus sich ein linker Politiker leisten darf. Der Parteichef der Linken und ehemalige IG-Metall-Funktionär geriet in die Schlagzeilen, weil er angeblich auf Kosten des Bundestages zu Gewerkschaftstreffen geflogen war. Auch sein doppelter Verdienst - als Parteivorsitzender und Fraktionsvorstandsmitglied - sowie sein Lebensstil erzeugten innerparteilichen Trubel. Seine Kritiker halten ihm vor, ein Salon-Linker zu sein.

Ernst rechtfertigte die hohen Bezüge mit dem Argument, er habe sich im Vergleich zu seiner Gewerkschaftstätigkeit "nicht deutlich verschlechtern" wollen. Später ging er auf Tauchstation, schließlich verzichtete er auf sein Zusatzgehalt. Die Diskussion um die vermeintlich falsch abgerechneten Flüge endete, als die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren einstellte. In der Partei bleibt Ernst dennoch umstritten: Sein bayerischer Landesverband wirft ihm vor, Mitgliederzahlen manipuliert zu haben.

Mitgliederabend der Berliner Grünen - Künast

Quelle: dpa

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Ihr Parteifreund Jürgen Trittin bezeichnete sie einmal als "grüne Allzweckwaffe". Ende Oktober gab Renate Künast, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, ihr Ziel für 2011 bekannt: Sie will Klaus Wowereit als Regierenden Bürgermeister von Berlin ablösen. Der Schritt erschien logisch angesichts von Umfragewerten nahe der 30-Prozent-Marke in der Hauptstadt. Die Wahl Künasts, so die grüne Hoffnung, könnte der krönende Abschluss eines Höhenflugs werden, den die Partei der schwarz-gelben Atompolitik und Stuttgart 21 verdankt. Bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg im März werden ihrem Parteifreund Winfried Kretschmann gute Chancen eingeräumt, der erste grüne Ministerpräsident zu werden. Künast soll im September folgen.

Die ehemalige Verbraucherschutzministerin bekam allerdings schnell zu spüren, dass eine Kandidatur mit Risiken verbunden ist: Zum Wahlkampfauftakt irritierte sie mit Gedankenspielen, Gymnasien langfristig abzuschaffen und in Berlin großflächig Tempo 30 einzuführen. Die Wirtschaft vergrätzte sie mit Aussagen gegen den Großflughafen Berlin-Brandenburg International. "So was von irre", nannte Wowereit die Äußerungen seiner Kontrahentin. In den Umfragen liegt die SPD nun wieder vor den Grünen.

Stuttgart 21 - Schlichterspruch

Quelle: dpa

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Als Heiner Geißler kam, war Stuttgart ein Krisengebiet. Der Streit um den neuen Tiefbahnhof Stuttgart 21 war Ende September eskaliert, Polizisten und Demonstranten waren bei Protesten verletzt worden. Angesichts der Gewalt und stetig sinkender Zustimmung griff Ministerpräsident Stefan Mappus einen Vorschlag der Grünen auf und machte Geißler zum Schlichter. Der rief "alle an einen Tisch". Ein Demokratieexperiment sollte es werden, das "Stuttgarter Modell", ein Vorbild für alle zukünftigen Streitfälle. Darunter macht es Geißler nicht

Der 80 Jahre alte Polit-Rentner schaffte eine Transparenz, wie es sie in der gesamten Planungsphase von Stuttgart 21 nicht gegeben hatte. Jedes noch so kleine Detail wurde überprüft, Millionen Menschen verfolgten die Gespräche im Fernsehen. Am Ende empfahl Geißler: Weiterbauen, aber mit Änderungen. Für die Bahn könnte das teuer werden, für Mappus könnte es die Wende zum Guten bedeuten. Einige Gegner wollen weiter protestieren, viele dankten dem Schlichter für die Arbeit. Zum ersten Mal habe man sich ernst genommen gefühlt. In Stuttgart herrscht dank Geißler wieder Frieden - vorerst zumindest.

German Presidential Candidate Joachim Gauck

Quelle: Polaris/laif

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Er ist ein Kandidat wie aus dem Lehrbuch: graumelierte Haare, verbindliches Auftreten, stets gefasst und mit einer Sprachmächtigkeit, die ihresgleichen sucht. Joachim Gauck wurde von SPD und Grünen für das Amt des Bundespräsidenten vorgeschlagen und von Beginn an hatte er große Sympathien auf seiner Seite. Im Internet formierte sich eine regelrechte Gauck-Bewegung. Konservative und liberale Vertreter kündigten an, lieber für Gauck zu stimmen, als für den harmlos-blassen Koalitionskandidaten Christian Wulff.

Gauck vereint für viele eine glaubwürdige Lebensbiographie als Regimegegner in der DDR mit einem unverrückbaren Zukunftsoptimismus. Er hielt große Reden zur deutschen Einheit, zum Zusammenwachsen des Landes, zu Freiheit und Verantwortung. Seine Worte berührten viele Menschen. Er sprach niemandem nach dem Mund, aber vertrat nachvollziehbare Überzeugungen, während Wulff sich ohne erkennbare Idee durch die Kandidatur nuschelte. Hätten die Bürger am 30. Juni direkt wählen können - Gauck wäre sicher Präsident geworden.

© sueddeutsche.de/mikö/jul/kler/mati/mcs/lala
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