Österreich-Kolumne:Fehlende Vision

Proteste in Österreich

Gegen die Abschiebungen von drei Schülerinnen und ihren Familien Ende Januar hatten unter anderen Politiker der SPÖ, der Grünen und der liberalen Neos demonstriert.

(Foto: Christopher Glanzl/dpa)

Innenminister Karl Nehammer sagt, er habe die Abschiebung der zwölfjährigen Tina nicht verhindern können. Doch das stimmt nicht ganz.

Von Marija Barišić

Ich glaube ja, dass Politikerinnen und Politiker nicht deshalb gewählt werden, weil sie Missstände ansprechen, sondern weil sie versprechen, diese abzuschaffen. Anders gesagt: Nicht mit der Wirklichkeit gewinnt man Wahlen, sondern mit Visionen - das würde zumindest erklären, warum Politiker sich vor allem mit ersterer so oft so schwertun.

Gut zu beobachten war das im ZiB2-Interview mit Innenminister Karl Nehammer (ÖVP). Dabei behauptete er, er hätte die Abschiebung von Tina (lesen Sie hier die Seite-Drei-Reportage von Cathrin Kahlweit "Hart an der Grenze" über den Aufruhr nach den Abschiebungen sowie Recht und Moral), der zwölfjährigen Schülerin aus Wien, und ihrer Familie nicht verhindern können, ohne dabei "Amtsmissbrauch" zu begehen. Schließlich hätten die Gerichte mehrmals einen negativen Asylbescheid erteilt, die Familie habe sich immer wieder vor Abschiebungen gedrückt und er als Politiker müsse eben dem Recht folgen.

Die Sache ist nur: Das stimmt in Wirklichkeit nicht ganz. Als Innenminister hätte Nehammer nämlich sehr wohl ein "humanitäres Bleiberecht" gewähren können, und zwar "ohne dass dies Amtsmissbrauch oder ein Angriff auf die Unabhängigkeit der Gerichte gewesen wäre", wie Maria Berger, Ex-Richterin am Europäischen Gerichtshof, in einer Kolumne für den Falter schreibt. Gerade das Recht, mit dem der Innenminister die Abschiebung von Tina so eifrig verteidigt, liefert also den Beweis dafür, dass er sie in Wahrheit hätte verhindern können. Wie blöd. Der Rechtsstaat wird als Ausrede angerufen, um Menschenrecht zu verletzen, wie Karl-Markus Gauß hier in seiner Kolumne mit dem Titel "Kalter Stolz" schreibt.

Ein kleines Gedankenexperiment: Stellen wir uns für einen kurzen Moment vor, es wäre wirklich so gewesen, wie Nehammer behauptet. Stellen wir uns vor, wir würden in einem Land leben, in dem Kinder, die hier geboren und aufgewachsen sind, aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen und in ein fremdes Land abgeschoben werden können - ganz legal, ohne dass man als Innenminister irgendetwas dagegen tun könnte. Und darauf angesprochen, wie das eigentlich sein kann, würde diesem Innenminister nichts Besseres einfallen, als gebetsmühlenartig zu wiederholen, dass die Politik dem Recht eben folgen müsse.

Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen dabei geht, aber auf mich wirkt so eine Antwort nicht nur ziemlich emotions-, sondern vor allem auch sehr fantasielos. Schließlich werden Politiker nicht nur dafür gewählt, dem Recht zu folgen, sondern es im besten Fall so zu gestalten, dass es menschlich, gerecht und fair ist.

Theo Haas, der 17-jährige Schulsprecher des Gymnasiums Stubenbastei und ein Schulfreund von Tina, hat das in seinem ORF-Interview noch besser ausgedrückt als ich: "Wenn das, was hier stattgefunden hat, nämlich dass eine perfekt integrierte Familie, deren Heimat Österreich ist, einfach mitten in der Nacht abgeschoben wird und in einen Flieger gesetzt wird in ein Land, zu dem sie eigentlich keinen wirklichen Bezugspunkt hat, wenn das gesetzeskonform ist, dann stimmt etwas mit den Gesetzen nicht." Sprich: Dann gehören sie eben geändert.

Es wäre im Übrigen nicht das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, keine Panik. Nur ein Beispiel: Ohne Gesetzesänderungen dürften Frauen in Österreich heute weder wählen noch studieren noch arbeiten. Dann würden Sie vermutlich auch diesen Text hier gar nicht lesen - also zumindest nicht von mir. Gut, dass damals jemand beschlossen hatte, dem Recht nicht zu folgen und sich um ein neues Recht zu bemühen.

Aber vielleicht fehlt Nehammer dafür die Vision.

Diese Kolumne ist am 5. Februar 2021 auch im Österreich-Newsletter erschienen.

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