Politik in der Krise:Alte Heilslehren als neuer Sachzwang

Die Marktradikalen haben es geschafft: Ihretwegen hat sich der Staat verschuldet - nun muss er fortsetzen, was sie angepriesen haben.

Erhard Eppler

Als zerknirschte Banker staatliche Garantien brauchten, um ihr - wohlbegründetes - gegenseitiges Misstrauen so weit zu überwinden, dass sie sich wieder gegenseitig Geld liehen, fanden kritische Beobachter, nun sei das Ende des Marktradikalismus gekommen. Wer künftig noch behaupten sollte, Märkte regulierten sich am besten selbst, müsse mit allgemeinem Gelächter rechnen.

Erhard Eppler, AP

Erhard Eppler

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Inzwischen wird klar, dass die Marktradikalen keineswegs resigniert haben, weder die in den Vorständen von Banken und Konzernen noch die in den Medien. Auch nicht die in der Politik, die sich vielleicht selbst über den Aufwind wundern, in den sie geraten sind. Nirgendwo eine Spur von der Bescheidenheit des Gescheiterten, vom Eingeständnis eines fatalen Irrtums oder gar vom schlechten Gewissen gegenüber denen, die nun als Steuerzahler oder als Arbeitslose die Suppe auszulöffeln haben, die leichtsinnige Zocker total versalzen haben.

Das alles ließe sich hinnehmen als verzögertes Begreifen, als die Fähigkeit herrschender Ideologien, ihre eigene Widerlegung für einige Zeit zu überleben. Gäbe es nicht harte Fakten, auf die sich die Gescheiterten verlassen können. Was als Heilslehre unverkäuflich geworden ist, könnte als Sachzwang wiederkehren.

Die Mehrheit der Ökonomen rechnet damit, dass es einige Jahre dauern wird, bis die europäische und damit auch die deutsche Wirtschaft wieder da ankommen könnte, wo sie vor der Finanzkrise war. Ist die Wirtschaft um gut sechs Prozent abgestürzt, bedeuten anschließende Wachstumsraten von 0,5 oder auch 1,5 Prozent keinen Aufschwung.

Alle großen Industriestaaten Europas haben, um der Krise zu widerstehen, gigantische neue Schulden aufgenommen. Sie liegen noch über Jahre weit jenseits der Grenze, die in Maastricht gesetzt wurde. Es gehört also keine Prophetengabe zu der Vermutung, dass wir in der nächsten Legislaturperiode vor allem darüber diskutieren werden, wie sich die Neuverschuldung des Staates vermindern, wann sie sich ganz vermeiden lässt. Schließlich haben wir jetzt auch eine Schuldenbremse in der Verfassung.

In Deutschland haben die Parteien, die miteinander die Bundestagswahl gewinnen wollen - und dafür gute Chancen sehen -, massive Steuersenkungen angekündigt. Frau Merkel hat ein Versprechen hinzugefügt, das in den USA ein gewisser Grover Norquist den meisten republikanischen Kongressabgeordneten per Eid abgenommen hat: keine Steuer zu erhöhen. Die Steuereinnahmen, die wahrscheinlich über die ganzen vier Jahre unter denen von 2007 liegen werden, sollen also noch einmal drastisch gesenkt und auf keinen Fall angehoben werden.

Natürlich werden sich die Steuersenkungen so wenig selbst finanzieren, wie sie es bei Eichel oder auch bei Bush getan haben. Das bedeutet für die öffentlichen Hände nicht nur äußerste Sparsamkeit, sondern den Abbau von Aufgaben. Vor der Wahl hält man sich an den Rat des alten Churchill an einen jungen Kandidaten für das Unterhaus: "Sage in jeder Rede, der Staat müsse sparen, aber sage ja nie, wo." Natürlich wissen alle, dass sich dies nach der Wahl nicht mehr lange durchhalten lässt. Man mag vermuten, dass es vor allem den Sozialetat treffen wird, aber wo die Länder das Geld für mehr Lehrerinnen und kleinere Klassen hernehmen sollen, bleibt dann immer noch offen.

Wer kümmert sich um die Sanitäter?

Bestand die "Rückkehr des Staates" also nur in seinem spektakulären Auftritt als Sanitäter, der fleißig und professionell die Wunden verbinden musste, damit die Verletzten zur Truppe zurückkehren und weitermachen konnten? Und wer kümmert sich später um die Sanitäter? Sie haben ihre Schuldigkeit getan.

Nach der Krise werden Bund, Länder und Gemeinden nicht stärker, sondern schwächer sein als vorher. Sie werden noch mehr danach beurteilt werden, was sie für das Aufholen der Wirtschaft tun. In den Kommunen wird weiter privatisiert werden; nicht mehr, weil eine Mehrheit der Gemeinderäte dies für nützlich hielte, sondern weil man sonst keinen ausgeglichenen Etat zustande bringt. In den Ländern werden weiterhin Polizeistellen abgebaut, während das private Sicherheitsgewerbe wächst; nicht, weil eine Mehrheit des Landtags dies gut fände, sondern weil der Finanzminister den Etat des Innenministers kürzen muss.

Studiengebühren werden eher erhöht als gesenkt oder abgeschafft; nicht, weil dies die Qualität der Lehre verbessern würde, sondern weil nicht genug Geld für das Nötigste da ist. Die Einwerbung von Drittmitteln wird noch mehr Zeit von Professoren binden; nicht, weil dies unsere Wissenschaft beflügelt, sondern weil sonst gar nichts mehr läuft. Public Private Partnership dürfte sich ausdehnen; nicht, weil die Erfahrungen damit besonders gut wären, sondern weil Unerlässliches sonst unterbleiben müsste.

Kurz: Es wird genau das sich fortsetzen, und zwar mit gesteigerter Intensität, was die Marktradikalen uns angepriesen haben. Nein, die unbegrenzte Freiheit bei wachsendem Wohlstand wird nicht mehr versprochen. Aber der Sachzwang, die behauptete Alternativlosigkeit wird ausreichen, uns in Richtung Marktstaat zu drängen. Die Spaltung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer wird sich beschleunigen, und niemand weiß, ob sich die Konflikte, die dann entstehen, noch in demokratischen Formen austragen lassen. Spaltung der Gesellschaft ist auf allen Kontinenten verbunden mit Privatisierung der Gewalt und Zerbröseln des staatlichen Gewaltmonopols, also auch der Rechtssicherheit, ohne die auch Märkte nicht gedeihen. Wir könnten von der Finanzkrise über die Wirtschaftskrise in die Staatskrise schlittern.

Das alles lässt sich ohne große Phantasie absehen. Aber es bedeutet nicht, dass alle, die jetzt Steuersenkungen versprechen, dies wollen. Der FDP darf man ohne Bosheit unterstellen, dass sie durch solche Aussichten nicht um den Schlaf gebracht wird. Einem Teil der Union auch. Er ist wohl eher eine Minderheit. Aber sie werden bei Schwarz-Gelb die besseren Karten haben.

Und die, dies alles nicht wollen? Die überzeugt sind, dass Demokratie nur möglich ist, wenn der Wille der Mehrheit sich gegen jene Minderheit durchsetzen kann, die sich durch die Finanzkrise diskreditiert hat? Sie müssen zumindest klarmachen, vor welchen Alternativen wir stehen und dass sie den Staat nicht als Sanitäter, sondern als Arzt verstehen, der auch dafür verantwortlich ist, dass nicht die alten Dummheiten den Genesenen wieder ins Krankenhaus bringen.

Erhard Eppler, 82, leitete die SPD-Grundwertekommission von 1973 bis 1992. Er war Bundesminister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Präsident des Evangelischen Kirchentags.

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