Süddeutsche Zeitung

Polen:Wałęsa, ein Informant?

Polens Ex-Präsident Lech Wałęsa soll für den Geheimdienst gearbeitet haben. Der Solidarność-Anführer bestreitet den (erneuten) Vorwurf.

Von Florian Hassel, Warschau

Auf den ersten Blick schienen es definitive Beweise zu sein, die Staatsanwälte am Dienstagabend in einer Warschauer Villa beschlagnahmten: Beweise dafür, dass Lech Wałęsa, legendärer Führer der Gewerkschaft Solidarność, Friedensnobelpreisträger und der erste frei gewählte Präsident des nachkommunistischen Polen, jahrelang Agent "Bolek" des Geheimdienstes SB gewesen ist. Einen Ordner mit 90 Seiten über Bolek stellten die Ermittler sicher, darunter eine mit "Lech Wałęsa - Bolek" unterschriebene Verpflichtungserklärung und Quittungen, auf denen Bolek den Empfang von Geld bescheinigte. Die Dokumente, die Polens Institut der nationalen Erinnerung (IPN) übergeben wurden, sind nicht die ersten, die eine angebliche Spitzel-Arbeit Wałęsas belegen sollen. Schon 2008 veröffentlichten die IPN-Historiker Sławomir Cenckiewicz und Piotr Gontarczyk das Buch "Der SB und Wałęsa" mit gut 130 Seiten Dokumenten aus dem Geheimdienstarchiv über eine angebliche Agententätigkeit Wałęsas. Das Buch ist freilich umstritten - wie auch die Dokumente.

Wałęsa war 1970 ein 27 Jahre junger Elektriker auf der Danziger Lenin-Werft. Im Dezember 1970 protestierten die Werftarbeiter, mit angeführt von Wałęsa, gegen das Regime. Der Protest wurde niedergeschossen, Hunderte verhaftet, auch Wałęsa. Der Historiker Andrzej Friszke kam 2013 zum Schluss, Wałęsa habe tatsächlich eine Verpflichtungserklärung als Agent Bolek unterschrieben - so wie Dutzende weitere angeblich angeworbene Agenten. 1972 habe sich Bolek öfter mit dem Geheimdienst getroffen, 1973 nur noch zweimal, zum letzten Mal schließlich im November 1974. 1976 sei Bolek wegen Verweigerung der Mitarbeit offiziell als Agent entlassen worden.

So weit, so scheinbar klar. Wałęsa wurde Führer der Solidarność, 1983 Friedensnobelpreisträger, 1989 zwang er das kommunistische Regime zum "runden Tisch" und letztlich zur Machtaufgabe. Schon kurz nachdem Wałęsa 1990 erster frei gewählter Präsident Polens geworden war, behaupteten frühere Oppositionelle und die von Wałęsa zuvor gefeuerten Brüder Lech und Jarosław Kaczyński, er sei Geheimdienstspitzel gewesen. Wałęsa gab in seiner Autobiografie zu, dass er und seine Familie unter dem Druck des Geheimdienstes gestanden hatten. Er bestreitet aber bis heute, Bolek gewesen zu sein.

Ein Warschauer Gericht entschied im August 2000, Wałęsa habe nie mit dem Regime kooperiert: Entsprechende Dokumente seien gefälscht. Dieses Urteil wurde Jahre später unterfüttert. Ein IPN-Staatsanwalt stellte 2011 fest, im kommunistischen Geheimdienst habe Anfang der 1980er-Jahre eine Gruppe unter Major Adam Styliński systematisch Dokumente über Agent Bolek gefälscht. Das Ziel: die Diskreditierung Wałęsas innerhalb der Solidarność und im Ausland. Ein Mitglied der Gruppe sagte der Gazeta Wyborcza, die Geheimdienstler hätten sich Schulaufsätze, Briefe und andere Dokumente aus Wałęsas Leben besorgt, um möglichst echt fälschen zu können. Die Dokumente seien dann anderen Solidarność-Führern zugespielt worden sowie der norwegischen Botschaft - um zu verhindern, dass Wałęsa den Friedensnobelpreis bekomme.

Oberster Dienstherr des Geheimdienstes war in den 1980er-Jahren General Czesław Kiszczak, Innenminister und faktisch der zweite Mann im Staate. Der Innenminister war nach Verhängung des Kriegsrechts 1981 zuständig für die Bekämpfung der Opposition. Er starb 2015, mit 90 Jahren. Seine Witwe wollte nun Dokumente verkaufen, die ihr Mann illegal mit nach Hause genommen hatte. Kurz nachdem sie am Dienstag im IPN vorgesprochen hatte, schickte die Institutsleitung Ermittler, die alle Dokumente beschlagnahmten, auch die über Agent Bolek.

Ob diese Dokumente nun echt sind oder gefälscht, könnte vielleicht eine sorgfältige Expertise klären. Die Beschlagnahmung der Dokumente im Kiszczak-Haus endete erst um 22 Uhr am Dienstagabend. Schon am Donnerstagvormittag erklärte das IPN die Dokumente für "authentisch". So schnell urteilen ansonsten nur Funktionäre der rechtspopulistischen Partei "Recht und Gerechtigkeit" (Pis), etwa Verteidigungsminister Antoni Macierewicz. Dieser kommentierte, es gebe nun "keinerlei Zweifel" mehr über Wałęsas Agentenvergangenheit. Der einstige Präsident bestreitet das und kündigte an, wieder vor Gericht ziehen zu wollen.

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SZ vom 19.02.2016
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