Polen:Vergraben im Bombentrichter

Am Fuß der Marienburg in Polen wurden jetzt Hunderte Zivilisten exhumiert, die dort 1945 den Tod fanden. Wie sie starben, ist noch ungewiss.

Thomas Urban

Es sind womöglich mehr als 2000 Menschen, die 1945 zu Füßen der Marienburg, der mächtigen Festung der deutschen Ordensritter, in den ersten, bitterkalten Monaten des Jahres ihr Leben lassen mussten. 64 Jahre später werden nun ihre sterblichen Überreste aus einem Massengrab im Zentrum der heute polnischen Stadt Malbork exhumiert.

Polen: Die mächtige Festung der deutschen Ordensritter: Die Marienburg in Polen.

Die mächtige Festung der deutschen Ordensritter: Die Marienburg in Polen.

(Foto: Foto: dpa)

Mehr als hundert der gefundenen Schädel weisen Einschusslöcher auf, teilt der Sprecher der Stadt mit. Die ersten Untersuchungsergebnisse lassen darauf schließen, dass es sich um deutsche Zivilisten handelt, die bei den letzten Kämpfen sowie in den ersten Wochen nach der Einnahme Marienburgs durch die Rote Armee zu Tode gekommen waren. Ein Sprecher der Stadtverwaltung teilte mit, dass die Exhumierung bis Ende Januar abgeschlossen sein solle.

Ein Grab für die Gesichtslosen

Die Leichen waren im vergangenen Herbst entdeckt worden. Damals wurde die Baugrube für ein neues Luxushotel nur 300 Meter entfernt von der mächtigen und berühmten Burg ausgehoben, die heute zum Weltkulturerbe der Unesco gehört und eine der größten Touristenattraktionen Polens ist.

Ganz offenbar wurden die Opfer in Bomben- und Granattrichter geworfen, nachdem sie vorher entkleidet worden waren oder sich hatten ausziehen müssen. "Alle wurden nackt in das Massengrab geworfen - ohne Schuhe, ohne Kleidung, ohne persönliche Sachen", heißt es in einem Zwischenbericht. Auch mit Metalldetektoren seien keine persönlichen Gegenstände gefunden worden, nicht einmal Zahnprothesen. Aus diesem Grund nehmen die Experten an, dass die Leichen von Rotarmisten verscharrt wurden, denn diese hätten die Kleider von Toten oft als Beutegut nach Hause geschickt.

Zunächst hatten die Experten angenommen, dass es sich um gefallene Soldaten handelte. Marienburg war Anfang 1945 heftig umkämpft gewesen. Noch am 23. Januar waren die letzten Flüchtlingszüge durch die Stadt Richtung Westen gefahren. Zwei Tage zuvor hatte SS-Führer Heinrich Himmler auf der Burg eine Lagebesprechung abgehalten.

Einer der Teilnehmer berichtete später über dieses Treffen: "Auf einer Karte operierte Himmler mit großen Panzer-Armeen, so dass wir den Eindruck gewinnen mussten, die Lage würde sich in Kürze wenden. Hinterher stellte sich heraus, dass diese Panzer-Armeen überhaupt nicht existierten." Himmlers falsche Informationen führten dazu, dass die Stadt erst geräumt wurde, als die Rote Armee wenige Kilometer entfernt war.

Exzesse der sowjetischen Besatzer?

Da es sich nach ersten Annahmen um Opfer der Kampfhandlungen handelte, leitete die Staatsanwaltschaft anfangs keine Untersuchung ein. Dagegen aber regte sich bald Protest; polnische Historiker forderten, es müsse untersucht werden, ob es nicht zu Verbrechen nach dem Ende der Kampfhandlungen gekommen sei.

Die Staatsanwaltschaft eröffnete schließlich doch ein Verfahren. Dokumenten zufolge waren rund 1800 deutsche Zivilisten in der umkämpften Stadt zurückgeblieben. Sie setzten darauf, dass ihnen von Seiten der Russen keine Gefahr drohte, da sie keine Funktionen im NS-Staat innegehabt hatten, oder es handelte sich um Alte und Gebrechliche ohne Angehörige.

Mittlerweile glauben Experten, dass nur ein Teil dieser Zurückgebliebenen bei den Kämpfen umgekommen sei, andere seien verhungert, eine weitere Gruppe wiederum exekutiert worden. Man habe die überall herumliegenden Leichen in die Bombentrichter geworfen, weil sie nicht begraben werden konnten. Die Erde war hart gefroren.

Augenzeugenberichte über eine Exekution von Zivilisten liegen allerdings nicht vor. Der katholische Pfarrer Konrad Will, der vom sowjetischen Geheimdienst zunächst eingekerkert worden war, berichtete nach seiner Freilassung Ende April, dass in vielen Wohnungen und Kellern noch Leichen gelegen hätten. Andere Einwohner der Stadt schilderten Exzesse der sowjetischen Besatzer; sie berichteten von Brandschatzungen und Massenvergewaltigungen.

In Würde und Respekt beerdigen

Ein Teil der zurückgebliebenen deutschen Männer sei zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt worden. Ebenso sei in Lastwagen Beutegut nach Osten geschafft worden. In der Marienburg hielt sich zum Zeitpunkt der Kapitulation der letzten Wehrmachtseinheit Anfang März 1945 offenbar eine größere Gruppe von Flüchtlingen aus Ostpreußen auf.

Experten schließen auch nicht aus, dass polnische Banden, die im Frühjahr 1945 unter dem Schutz der Roten Armee in den deutschen Ostgebieten marodierten, für einen Teil der Gewalttaten verantwortlich sind. Erst im vergangenen Jahr war im rund 150 Kilometer südwestlich gelegenen Städtchen Aleksandrow Kujawski ein Mahnmal für die dort zur selben Zeit von polnischen Milizen ermordeten Deutschen eingeweiht worden.

Die sterblichen Überreste der Toten von Marienburg sollen nun entweder in der Stadt selbst oder auf einem deutschen Soldatenfriedhof in Pommern bestattet werden. In einer Erklärung der Stadtverwaltung heißt es: "Diese Leute starben auf eine so unmenschliche Art, wurden so unmenschlich verscharrt, dass wir sie in Würde und Respekt beerdigen müssen". Die Lokalpresse spricht sich für eine Beerdigung auf dem Marienburger Friedhof aus. In einem Leserbrief heißt es: "Das Schicksal der Menschen ist auch Teil der Geschichte dieser Stadt!"

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: