Polen:Verbrieftes Chaos

01 09 2019 WARSZAWA OBCHODY 80 ROCZNICY WYBUCHU II WOJNY SWIATOWEJ OBCHODY PANSTWOWE NA PLACU PILSU

Jarosław Kaczyński, PiS-Parteichef und faktisch Polens Regierungschef, sitzt neben Verfassungsgerichtspräsidentin Julia Przyłębska. Von ihr muss er bei seinen Wahl-Plänen wenig Widerstand befürchten.

(Foto: Damian Burzykowski/imago images/newspix)

Die Regierungspartei PiS will unbedingt am kommenden Sonntag einen neuen Präsidenten wählen lassen - trotz massiver verfassungsrechtlicher Bedenken. Doch die Anzeichen mehren sich, dass daraus wohl doch nichts wird.

Von Florian Hassel, Warschau

Fünf Tage vor dem Wahltermin erreichte die Realität dann auch offiziell Polens Regierungslager: Ein Vize-Ministerpräsident, der Wahlkampfchef des Präsidenten und die Parlamentsvorsitzende gaben zu, das Land könne am Sonntag keinen neuen Präsidenten wählen. "Die Wahlen sind am 10. Mai aus organisatorischen und rechtlichen Gründen nicht möglich", fasste die Wahlkommission am späten Dienstag ein politisches Chaos zusammen, wie es Polen lange nicht erlebt hat.

Einen Monat ist es her, dass der Sejm, Polens untere Parlamentskammer, am 6. April rechtswidrig (weil kurz vor dem Wahltermin) das Wahlrecht änderte und die Wahl am 10. Mai zur ausschließlichen Briefwahl erklärte. Danach traten weitere rechtswidrige Bestimmungen zutage. Polens Briefträger erklärten sich außerstande, in kürzester Zeit mehr als 30 Millionen Pakete mit Wahlunterlagen zuzustellen.

Auch die Aufstellung lokaler Wahlkommissionen mit mehr als 200 000 Mitgliedern funktionierte in Zeiten der Corona-Pandemie nicht. Zudem ist das Gesetz vom 6. April bis heute nicht beschlossen. Der Senat, Polens oppositionskontrolliertes Oberhaus, lehnte es am Dienstag ab. Ob und wann nun gewählt oder der Katastrophen- oder gar Ausnahmezustand ausgerufen wird: Entschieden wird dies in der Warschauer Nowogrodzka-Straße, Hauptquartier der Regierungpartei PiS und ihres Chefs Jarosław Kaczyński.

Theoretisch könnte der Sejm das vom Senat abgelehnte Briefwahlgesetz am Donnerstag überstimmen und es sofort vom Präsidenten unterschreiben lassen. Doch es knirscht im Regierungslager: Jarosław Gowin, Chef einer an der Regierungskoalition beteiligten Partei, tritt gegen eine Wahl im Mai auf. Stimmen neben Gowin fünf weitere Abgeordnete seiner Partei mit "Nein", ist das Briefwahlgesetz durchgefallen - und damit die Grundlage der Wahl.

Scheitert das Briefwahlgesetz, könnte die Regierung theoretisch auch wie ursprünglich geplant in Wahllokalen und nur teils per Briefwahl abstimmen lassen. Doch Gesundheitsminister Łukasz Szumowski erklärte mehrmals, er halte in Zeiten der Corona-Epidemie ausschließlich eine Briefwahl für vertretbar. Polen werde frühestens in zwei Wochen den Höhepunkt der Pandemie erreichen, so der Minister am Mittwoch in der Rzeczpospolita. Ein Urnengang mit Hunderttausenden persönlicher Kontakte würde die Zahl der Corona-Infizierten noch erhöhen.

Oppositionsabgeordneten zufolge soll PiS-Chef Kaczyński eine weitere Möglichkeit prüfen. Vor der Abstimmung im Senat stellten seine Parteikollegen dort etliche - durchgefallene - Anträge zur Änderung der Abstimmungsprozedur oder angeblich notwendiger geheimer Beratung. Oppositionsabgeordnete befürchten, Kaczyński könne auf Basis angeblicher Regelverletzungen das von ihm kontrollierte Verfassungsgericht (TK) anrufen. Das TK könne das "Nein" des Senats zum Briefwahlgesetz per Eilentscheidung für verfassungswidrig und ungültig erklären: In diesem Fall könnte der Präsident das Briefwahlgesetz ohne weitere Beratung im Sejm sofort unterschreiben.

TK-Präsidentin Julia Przyłębska eröffnete am Mittwoch ein Verfahren, um zu entscheiden, ob Sejm-Vorsitzende Elżbieta Witek berechtigt sei, den Wahltermin vom 10. Mai zu verschieben. Przyłębska erbat eine Stellungnahme der Sejm-Vorsitzende bis zum Donnerstagvormittag - offenbar, um die Entscheidung schnell treffen zu können. Die TK-Präsidentin ließ zudem die Möglichkeit einer nichtöffentlichen Verhandlung offen. Der polnischen Verfassung zufolge entscheidet in Wahlfragen allerdings nicht das Verfassungsgericht, sondern das Oberste Gericht.*

Am 27. April erklärte das zu diesem Zeitpunkt noch unabhängige Oberste Gericht das vom Sejm beschlossene Briefwahlgesetz in einem Gutachten für rechtwidrig. Zudem habe die Sejm-Vorsitzende "keinerlei Berechtigung, den Wahltermin zu ändern". Seit Witek den Wahltermin 10. Mai am 5. Februar offiziell festgesetzt habe, laufe der Wahlprozess: mit Unterschriftensammlungen der Kandidaten, ihrer Registrierung, der Bildung von Wahlkommissionen. Werde der Termin geändert, müsse der gesamte Prozess wiederholt werden, so das Oberste Gericht. Auch 425 polnische Rechtsexperten sehen jede Änderung des Wahltermins als verfassungswidrig.

Kaczyński könnte den Gordischen Knoten durchschlagen und den - von der Opposition lange geforderten - Katastrophen- oder gar Ausnahmezustand ausrufen lassen: Eine anstehende Wahl wird dann automatisch verschoben und wäre frühestens 90 Tage nach Ende von Katastrophen- oder Ausnahmezustand möglich. Der Tageszeitung Fakt zufolge soll Kaczyński am Dienstag darüber mit Vertrauten beraten haben.

*Anm. d.Red: In einer vorherigen Fassung dieses Artikels hieß es, TK-Präsidentin Julia Przyłębska habe am Mittwoch erklärt, sie werde in geheimer Sitzung per Eilentscheidung befinden, ob Sejm-Vorsitzende Elżbieta Witek berechtigt sei, den Wahltermin vom 10. Mai auf spätestens den 23. Mai zu verschieben. Tatsächlich erklärte die Gerichtspräsidentin in einem Brief an die Sejm-Vorsitzende lediglich, ein entsprechendes Verfahren sei eingeleitet worden und schloss ein nichtöffentliches Verfahren nicht aus.

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