Polen und Ungarn:Das Veto als Waffe

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Machtprobe mit den übrigen EU-Staaten: Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán in Brüssel. (Foto: FRANCOIS LENOIR/REUTERS)

Warschau und Budapest wollen den EU-Haushalt blockieren, während andere Länder dringend auf das Geld zur Linderung der Corona-Krise warten. Dieser Erpressungsversuch soll Sanktionen ihrer Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit aushebeln. Kann diese Strategie aufgehen?

Von Florian Hassel, Cathrin Kahlweit und Matthias Kolb, Belgrad, Wien, Brüssel

Ryszard Czarnecki, Abgeordneter der polnischen Regierungspartei PiS im Europaparlament, gab sich abgeklärt. Polens Ankündigung, ebenso wie Ungarn Veto gegen den EU-Haushalt einzulegen, sei lediglich Taktik. "Die Verhandlungen dauern an, und die Ankündigung des Veto ist ein Element dieser Verhandlungen", sagte Czarnecki dem Fernsehsender TVN. Ein anderer PiS-Politiker zeigte sich überzeugt, Polen habe dabei gute Karten.

Auch wenn andere EU-Länder verärgert seien, würden "die Telefone bald wieder klingeln, weil es nötig sein wird, weiter zu verhandeln", sagte ein Mitglied der PiS-Spitze der Gazeta Wyborcza. Bundeskanzlerin Angela Merkel werde nicht als diejenige, die eine Verständigung habe platzen lassen, die deutsche EU-Ratspräsidentschaft beenden wollen. Ansonsten hoffe man auf Zugeständnisse durch Portugal und Slowenien, die 2021 den Vorsitz der EU-Länder übernehmen.

Polnische Unternehmer sind zutiefst besorgt, sie fürchten einen immensen Schaden. Nicht nur materiell.

So gelassen sehen dies aber längst nicht alle. Der Rat polnischer Unternehmer- und Bankenverbände appellierte an PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński und seine Koalitionspartner, kein Veto einzulegen. Das Land habe bis heute nur 60 Milliarden Euro in den EU-Haushalt eingezahlt, aber 190 Milliarden Euro herausbekommen. Jetzt sei Polen in Gefahr, in Europa allein dazustehen und bei einer Blockade des EU-Haushalts mehr als 60 Milliarden Euro zu verlieren.

Doch die Regierung gibt sich kompromisslos. Zbigniew Ziobro war als Justizminister und Generalstaatsanwalt Hauptakteur der weitgehenden Beschädigung des Rechtsstaates. Sollte ein wirksames Instrument zur Kürzung von EU-Fördergeldern entstehen, kann Ziobro viel verlieren. So drängte er am Montag Kaczyński, beim Veto zu bleiben. Und der entscheidet letztlich.

Die Frage ist, ob Kaczyński diese Position durchhalten kann. Eine Umfrage im Auftrag des Europaparlaments ergab Mitte Oktober, dass 72 Prozent der Polen dafür sind, dass die EU nur dann Geld an die Mitgliedstaaten auszahlt, wenn diese "rechtsstaatliche und demokratische Prinzipien" einhalten. Das ist nur etwas weniger als der EU-weite Zustimmungswert von 77 Prozent. Zudem ist die PiS durch Versäumnisse in der Corona-Krise und durch die anhaltenden Proteste polnischer Frauen gegen das faktisch vollständige Abtreibungsverbot politisch geschwächt. Mehreren Umfragen zufolge ist die nationalkonservative Partei so unbeliebt wie seit 2015 nicht mehr.

Die ungarische Regierung stellt sich als potenzielles Opfer der großen Mitgliedsländer dar

Warum das Veto aus Budapest unvermeidlich sei, erklärten in Ungarn Kabinettsmitglieder regierungsnahen Zeitungen. Kanzleramtsminister Gergely Gulyás sagte Magyar Nemzet, dem Rechtsstaat könne man nicht dienen, indem man ihn beschädige. Damit wiederholte er die Behauptung, der von der deutschen Ratspräsidentschaft mit dem EU-Parlament ausgehandelte Mechanismus widerspreche früheren Vereinbarungen. Magyar Nemzet, ein Sprachrohr der Regierung, sekundierte, der Rechtsstaatsmechanismus basiere auf Konzepten und Unterstellungen, die nicht ausreichend definiert und ausgearbeitet seien. Es könne nicht sein, dass Brüssel erst im Nachhinein festlege, was die zu verurteilenden Rechtsverstöße seien, für die ein Land bestraft werde und von denen es sich dann "reinwaschen" müsse.

Die Opposition kritisierte hingegen, Premier Viktor Orbán verzögere bewusst mit dem Veto die Auszahlung von Hilfsgeldern aus dem Corona-Fonds etwa an Italien oder Spanien, um diese künftig zu Zugeständnissen bei der Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus gegen Ungarn zu zwingen. Aufhalten könne Orbán die neue Regelung ohnehin nicht, sein Machtpoker werde dem Land wirtschaftlich schaden.

Für die deutsche Ratspräsidentschaft drängte Außenminister Heiko Maas zur Eile: "Es geht um so viel Geld, das so viele Länder in der EU nötig haben und darauf warten, dass wir dafür nicht nur eine Lösung, sondern eine schnelle Lösung brauchen." Vor der Videokonferenz der Europaminister rief Staatsminister Michael Roth Ungarn und Polen auf, ihren Widerstand aufzugeben. In seinen Augen sei es "nicht die Zeit für Vetos, sondern für schnelles Handeln im Geiste der Solidarität". Weil der Teil der Sitzung, in der es um den EU-Haushalt ging, live übertragen wurde, zeigte sich, dass Ungarn und Polen auf wenig Verständnis der 25 Partner treffen. Während der Vertreter Warschaus lediglich "einen Mangel an rechtlicher Klarheit" beklagte, sagte Ungarns Justizministerin Judit Varga, mit dem Instrument solle "auf ideologischer Basis" Druck ausgeübt werden. Sie stellte ihre Position als Freiheitskampf dar: "Wir sind glücklich, nicht mehr in einem System zu leben, in dem politische Abweichler bestraft werden, ohne Regeln verletzt zu haben."

Diese Rhetorik dürfte die Haltung des Europaparlaments eher stärken. Mehrere Abgeordnete betonten die Wichtigkeit der Regelung zum Schutz des Rechtsstaats. Dacian Cioloș, Chef der liberalen "Renew"-Fraktion, teilte Kommissionschefin Ursula von der Leyen mit, es gebe keine Mehrheit, um erneut über den Rechtsstaatsmechanismus zu verhandeln. Von der Leyens Sprecher sagte, sie versuche mit Merkel und EU-Ratspräsident Charles Michel, die Zustimmung Budapests und Warschaus zu erreichen.

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