Polen und seine Nachbarn: Das ist kompliziert. Im Osten das heute wieder drohende Russland und das mit ihm verbündete Belarus, im Südosten die von Russland angegriffene Ukraine. Die man heute unterstützt, mit der man aber wegen nicht aufgearbeiteter Massaker im Zweiten Weltkrieg auch noch eine Rechnung offen hat. Im Westen Deutschland, mit dem man bis heute um angemessene Anerkennung des polnischen Leids im Zweiten Weltkrieg ringt.
Zum Glück gibt es im Südwesten noch Tschechien. In dessen Hymne das Wasser über die Wiesen gurgelt und die Wälder an den Felsen rauschen. Wenn man wissen möchte, was Polen und Tschechien unterscheidet, muss man nur den Hymnen zuhören. Während in der tschechischen im wiegenden Ton die Frühlingslandschaft besungen wird, greift man in der polnischen im Marschschritt zum Säbel und verteidigt die Nation, um den Besatzer (irgendeinen gab es immer, meist mehrere) aus dem Land zu werfen, das „noch nicht verloren“ ist.
Das Streitobjekt hat die Größe des Englischen Gartens
Von Böhmen und Mähren ging diesbezüglich nie eine große Gefahr aus. Man könnte also meinen, Tschechien hätte das Zeug zum Lieblingsnachbarn. Stereotypisch wird die tschechische Sprache im polnischen Ohr oft als niedlich empfunden und die tschechische Bier-Gemütlichkeit sowie der etwas spezielle Humor sind fast sprichwörtlich. Die Tschechen selbst haben für ein bummelig-verschmitztes Verhalten das Verb „švejkovat“ geprägt, nach der Titelfigur Josef Švejk in Jaroslav Hašeks Roman, der im Deutschen als „braver Soldat Schwejk“ bekannt ist. Auf den größeren Nachbarn Polen schaut man in Tschechien mit etwas Skepsis.
Nun verliert Polen die Geduld mit diesen Schwejks. Die Tschechen sind den Polen nämlich seit 67 Jahren etwas schuldig: 368 Hektar Land. Das entspricht ungefähr der Größe des Englischen Gartens in München. Und diese rechnerisch fehlende Fläche, die nicht näher definiert ist, scheint für Polen auch annähernd so bedeutend zu sein wie die Grünfläche für die bayerische Landeshauptstadt.
Jedenfalls unternimmt die konservativ-liberale Regierung unter Donald Tusk in Warschau einen weiteren Versuch, den Gebietsstreit endlich zu ihren Gunsten zu lösen. So berichten es polnische und tschechische Medien. Vorher hatte auch die rechtsnationalistische PiS-Regierung versucht, die Flächen zu bekommen. Sie erklärte damals, das liege im „Interesse der Nation“.
Polens Anspruch bezieht sich auf eine Grenzkorrektur 1958
Polen hat eine Fläche von 322 575 Quadratkilometern, ist damit etwa so groß wie Deutschland ohne Baden-Württemberg. Tschechien dehnt sich auf 78 871 Quadratkilometern aus. Zur Grundschuld des heutigen Tschechiens kam es 1958. Das im Zweiten Weltkrieg von zwei Seiten überfallene Polen wurde auf Beschluss der Alliierten 1945 nach Westen verschoben, verlor Gebiete in der heutigen Ukraine und Litauen, erhielt Pommern und Schlesien.
Bei einer Begradigung der neuen Grenze zwischen der damaligen Volksrepublik Polen und der Tschechoslowakei kam es zu einem kleineren Gebietstausch, bei dem die damalige ČSR jene 368 Hektar zu viel zurückbehielt. Seit 1992 verhandeln die beiden neuen demokratischen Staaten immer wieder über diese Grundstücke. Eine Ausgleichszahlung lehnte Warschau 2005 ab, zehn Jahre später legte Prag ein Gebietsangebot vor – und zog es wieder zurück. Betroffen wären fünf tschechische Verwaltungsbezirke. Man macht es sich nicht gerade leicht.
Die Regierung des Konservativen Petr Fiala in Prag versteht sich eigentlich gut mit der Donald Tusks in Warschau. Beide haben einen proeuropäischen Kurs und unterstützen die Ukraine. Doch im Herbst wird in Tschechien gewählt. Gut möglich, dass der Populist und Milliardär Andrej Babiš wieder an die Macht kommt. Der hatte schon in einer früheren Amtszeit kein Interesse an dem Thema. Für Polen drängt also die Zeit. Für Tusk wäre es ein kleiner Triumph gegenüber der PiS-Partei. Für Fiala im Wahlkampf mit Babiš eher nicht. Vielleicht muss die polnische Regierung noch einmal den Švejk studieren. Zu dessen Erfolgsgeschichte gehört es allerdings, sich von Größeren nicht unterkriegen zu lassen.