Süddeutsche Zeitung

Polen:Symbolfigur des Widerstands

Der polnische Richter Igor Tuleya fühlt sich von Disziplinarmaßnahmen gegängelt - und erhebt Vorwürfe gegen die EU, von der er sich mehr Unterstützung erwartet.

Von Florian Hassel, Warschau

Es kommt nicht alle Tage vor, dass Richter im ganzen Land aus Protest die Arbeit ruhen lassen. Doch am Dienstagmorgen unterbrachen Richter in ganz Polen Verhandlung oder Aktenstudium, um gegen eine Verhandlung vor einem Sondergericht in Warschau zu protestieren. Dort beriet eine Disziplinarkammer am Obersten Gericht, ob die Immunität von Igor Tuleya aufgehoben werden sollte. Der Warschauer Richter ist in Polen eine Symbolfigur des Kampfes für den Rechtsstaat.

Dieser ist unter Polens nationalpopulistischer Regierung seit 2015 nach Meinung von Kritikern weitgehend beseitigt worden. Die Disziplinarkammer etwa wurde 2018 als politisch abhängiges Sondergericht gegründet, um Richter, Staatsanwälte, Anwälte und selbst Notare disziplinieren oder entlassen zu können. Mehreren Entscheidungen des Gerichtshofes der EU (EuGH) und des bis vor Kurzem noch unabhängigen Obersten Gerichts Polens zufolge ist die Disziplinarkammer kein Gericht. Seine politisch abhängig ernannten Richter sind dieser Lesart zufolge womöglich keine Richter, ihre Entscheidungen ungültig. Am 8. April verbot der EuGH Polen jede weitere Tätigkeit der Disziplinarkammer. Doch Warschau scherte sich nicht darum, ließ die Kammer weiterarbeiten und am Dienstag in einem Verfahren gegen Richter Tuleya entscheiden.

Tuleyas Immunität wird dann erstmal doch nicht aufgehoben

Igor Tuleya, 49 Jahre alt, markante blaue Brille, widerspenstig nach oben strebender Haarschopf, hat in den letzten Jahren Richterrobe und Anzug außerhalb des Gerichtssaals oft mit einem olivgrünen Armeeparka oder T-Shirts mit Aufschriften wie "Dieser Richter lebt noch!" vertauscht; er hat einen Protestmarsch von Richtern aus ganz Europa durch Warschau angeführt und seinen Landsleuten als Redner auf Rockfestivals, in Cafés oder Bürgerzentren im ganzen Land erklärt, was die Beseitigung des Rechtsstaats aus seiner Sicht bedeutet.

Am Dienstagmorgen beriet die Disziplinarkammer, ob Tuleyas Immunität aufgehoben werden sollte, um den Richter wegen angeblicher Vollmachtsüberschreitung und Verletzung der Dienstpflicht anzuklagen. Mögliche Strafe: Verlust des Richteramts und bis zu drei Jahre Haft. Tuleya selbst stand mit anderen Juristen und Aktivisten vor dem Gerichtsgebäude und verweigerte die Teilnahme an der Sitzung, da er die Disziplinarkammer nicht als Gericht anerkennt.

Richter Tuleya hat weder Drogen gedealt noch sich bestechen lassen. Sein Vergehen ist aus Regierungssicht schlimmer: Der Richter ist gegen einen mutmaßlichen Rechtsbruch der Regierenden vorgegangen. Ende 2016 blockierte Polens Opposition nach dem Ausschluss eines Abgeordneten den Parlamentssaal. Die Regierungsmehrheit widmete einen Nebensaal zur Sitzungskammer um und beschloss den Haushalt 2017 - freilich offenbar ohne die Mindestzahl an Abgeordneten. Teilnehmerlisten und Sitzungsprotokolle wurden offenbar manipuliert, Oppositionsabgeordnete am Betreten des Saales oder an Einwänden gehindert.

Die Opposition klagte dagegen, Tuleya wies die Staatsanwaltschaft an zu ermitteln. Doch die stellte das Verfahren schnell ein, das sich gegen ihren obersten Dienstherren, Justizminister-Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro, ebenso richtete wie gegen Polens Machthaber im Hintergrund, Jarosław Kaczyński. Tuleya ordnete an, die Ermittlung wieder aufzunehmen - und gegen 230 Parlamentarier einschließlich Kaczyńskis wegen des Verdachts auf Falschaussage zu ermitteln.

Die Staatsanwaltschaft will Tuleya nun ihrerseits anklagen. Ein politisch abhängiger Disziplinarbeauftragter eröffnete acht Verfahren gegen den Richter, eines davon wegen "juristischen Exzesses" nach einer Anfrage Tuleyas an den EuGH. Seit Ende 2015 hat die Regierung Hunderte Richter, Staatsanwälte und Anwälte degradiert oder mit Sanktionen überzogen.

Tuleya rechnet damit, dass er seinen Job verlieren könnte - und ihm in Polen nicht einmal der Anwaltsberuf offenstünde: Auch Anwälte unterstehen der neuen Disziplinarkammer. Wie viele Richter hat Tuleya vor Jahren eine Wohnung gekauft und dafür einen Kredit aufgenommen. "Wenn ich die Richterstelle verliere, muss ich die Wohnung verkaufen." Immerhin muss er keine Familie versorgen. Tuleya ist Single, ein Sohn ist bereits 18. Vorsichtshalber hat Tuleya Einkäufe gestrichen.

Aus Sicht des Richters geht auch die EU-Kommission wegen "übergeordneter politischer Interessen" wie Haushaltsgesprächen nicht konsequent gegen den Rechtsstaatsabbau in Polen und Ungarn, Rumänien oder Tschechien vor. "Ich glaube, die unausgesprochene Denkweise ist: Sollen die Osteuropäer selbst aufräumen, wenn bei ihnen wieder die Regierung wechselt." Statt gegen Polen wegen des weiteren Wirkens der Disziplinarkammer sofort hohe Geldstrafen beim EuGH zu beantragen, hat die EU-Kommission Warschau lediglich um weitere "Erklärungen und Information" gebeten.

Noch verfolgt die Öffentlichkeit den Fall Tuleya aufmerksam. Internationale Richterverbände protestierten; am Vorabend der Warschauer Verhandlung demonstrierten Polen in 150 Städten für Tuleya. Und so gab der Sprecher der Disziplinarkammer am Dienstagmittag nach einer Sitzung unter Ausschluss der Öffentlichkeit bekannt, Tuleyas Immunität werde nicht aufgehoben. Die Entscheidung ist indes nicht rechtskräftig.

Richter Tuleya sieht die "sogenannte Disziplinarkammer weiterhin" als "ein illegales Gericht. Das Beunruhigendste ist, dass dieses Verfahren überhaupt angesetzt wurde." Polens Richtervereinigung Iustitia zufolge geht die Regierung noch gegen Dutzende weitere Richter und Staatsanwälte vor.

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SZ vom 10.06.2020
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