Die polnisch-deutsche Baustelle ist riesig. Das wacklige Fundament wurde mit Spritzbeton gesichert, das Dach notdürftig vor dem Einstürzen bewahrt, die Zimmerwände haben Löcher, von den Decken wächst der Holzschwamm. Die Polen möchten jetzt die Fassade herrichten. Die Deutschen sagen: erst das Dach.
Polen und Deutsche, vereint in der „Deutsch-Polnischen Stiftung Kulturpflege und Denkmalschutz“, wollen gemeinsam das frühere Anwesen von Heinrich Graf von Lehndorff in Masuren wieder aufbauen. Steinort auf Deutsch, Sztynort auf Polnisch. Ein 52 Hektar großes Gut, das sich zwischen zwei Seen erstreckt. Ein Begegnungsort soll entstehen. Schauplatz eines noch etwas unbehausten zweisprachigen Kulturfestivals ist es immerhin zum achten Mal. Es widmet sich in diesem Jahr auch der Erinnerung an die Attentäter vom 20. Juli – der letzte Gutsherr gehörte zum Widerstand.
Es ist ein Projekt, das beispielhaft zeigt, wie Polen und Deutsche – und zwar aus zwei deutschen Staaten mit unterschiedlichen Prägungen – seit dem Ende des Kalten Krieges aufeinander zugehen. Wie sie um die gemeinsame Geschichte und das Erinnern ringen. Während sich das Verständnis davon immer wieder verändert – zuletzt durch den Krieg in der Ukraine. Das Lehndorff-Anwesen, einerseits entlegen zwischen den unendlichen Wäldern, Feldern, Seen der Masuren, andererseits nur 30 Kilometer von der Grenze zur russischen Oblast Kaliningrad und 90 von Litauen entfernt, ist einer dieser Orte, an denen sich die Geschichte verdichtet. Und erscheint den Unterstützern deshalb so geeignet, um hier etwas aufzuarbeiten, aber auch an die Zukunft zu denken.
Polen und Deutsche wollen Leben in das historische Anwesen bringen
Polnische Lokalpolitiker, Senatsabgeordnete oder auch der stellvertretende Außenminister Marek Prawda sowie auf deutscher Seite die frühere FDP-Staatsministerin und Generalkonsulin in Danzig Cornelia Pieper setzen sich seit vielen Jahren dafür ein, Leben in das Anwesen zu bringen. Aber wie packt man es am besten an? Allein die Sache mit dem Widerstand, darüber haben Polen und Deutsche noch miteinander zu reden.
Heinrich Graf von Lehndorff wurde am 21. Juli 1944 in diesem Haus von der Gestapo verhaftet und am 4. September 1944 hingerichtet. Lehndorffs schwangere Frau kam in ein Lager, die drei Töchter, darunter die spätere Schauspielerin Veruschka, in Heime. Stauffenberg hatte das Attentat auf Adolf Hitler etwa 25 Kilometer von Gut Steinort entfernt im sogenannten Führerhauptquartier an der Wolfsschanze ausgeführt.
Während Lehndorff in einem Teil des Hauses oder im Park Mitverschwörer traf, hatte sich in einem anderen Flügel des Gutshauses der NS-Außenminister Joachim von Ribbentrop einquartiert. Er hatte mit seinem sowjetischen Kollegen Molotow den Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnet und damit das Schicksal Polens besiegelt. In der Betonbunker-Anlage Wolfsschanze, in der Ribbentrop offenbar nicht wohnen wollte, gab Hitler wenige Tage nach dem Attentat den Befehl, die Einwohner von Warschau zu ermorden und die Stadt zu zerstören. Am 1. August 1944 hatte die polnische Heimatarmee den Aufstand gegen die deutschen Besatzer begonnen. Die Berichte vom Attentat und dem Umsturzversuch in Berlin werden als einer unter allerdings sehr vielen Gründen angesehen, warum der Augenblick für den Beginn des Aufstandes günstig erschien. Nach Kriegsende besetzte zunächst die sowjetische Armee das Lehndorff-Anwesen.
Die polnische Seite tut sich schwer mit Stauffenberg, ein Held ist er für sie nicht
Sehr viel Geschichte also für einen idyllischen Ort mit Bootsanlegestelle. Zumindest die deutsche Seite erhofft sich aus dem Gedenken zum 80. Jahrestag des Attentats auf Adolf Hitler etwas neuen Schwung und Aufmerksamkeit für das Projekt Steinort. Die polnische Seite hat mit Stauffenberg so ihre Probleme. Der frühere polnische Botschafter in Deutschland, Janusz Reiter, sagte am Dienstag in einer Festrede in Danzig: „Die Offiziere vom 20. Juli sind nicht meine Helden.“ Er habe eine kritische Distanz zu deren „dramatischer Tat“. Häufig zitiert werden einige Sätze aus einem Brief Stauffenbergs, der 1939 am Polen-Feldzug beteiligt gewesen war. Darin beschreibt er die polnische Bevölkerung auf sehr herabwürdigende Weise. Dennoch zeigt sich Reiter berührt vom Schicksal der Verschwörer und dem ihrer Familien. „Das Erbe des 20. Juli ist nicht eindeutig“, sagt Reiter.
Der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert, heute Vorsitzender der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, hat auch keine Lust, Stauffenberg als Helden zu feiern. Stauffenberg wie auch andere aus der Gruppe seien „Repräsentanten ihrer Herkunft und ihrer Zeit, teils zunächst Anhänger des Nationalsozialismus“ gewesen, sagt Lammert in Danzig. Doch sei der Widerstandskampf dieser wie anderer Gruppen die Grundlage gewesen „für die Wiederherstellung des guten Rufs“ Deutschlands und damit „das unzerstörbare Fundament des Wiederaufbaus“. Denn wegen dieser Taten hätten Alliierte nach dem Krieg das Vertrauen gehabt, dass ein anderes Deutschland möglich sei. Steinort, sagt Lammert später im Gespräch, könne vielleicht ein weiterer Gedenkort wie Krzyżowa/Kreisau werden, wo an das Widerstandsnetzwerk von Helmuth James von Moltke und Peter Yorck von Wartenburg erinnert wird.
Umstritten mögen die Attentäter vom 20. Juli sein – doch vor dem Parkplatz der sogenannten Wolfsschanze, dem Ort des Anschlags, zieht sich der Stau an Sommerferientagen die Alleen entlang. Etwa 300 000 Besucher pro Jahr hat die Anlage, in der seit wenigen Jahren Informationstafeln und kleine Ausstellungen die Geschichte des Ortes erklären. Ein Tourismusfaktor, genauso wie das Herrenhaus in Sztynort.
Fünf Millionen Euro hat der Bundestag beigetragen
Der ist nötig in dieser Gegend: Im Mai lag die Arbeitslosenquote bei vergleichsweise hohen 7,7 Prozent. Noch vor zehn Jahren waren es fast 19 Prozent. In den spärlich gesäten Dörfern hängen Plakate, auf denen steht, dass der Green Deal der EU Bauernhöfe zerstört. Verkehrsschilder warnen vor Elchen.
Etwas Tourismus ist schon angekommen in Sztynort, das heute einen modernen Segelhafen mit allen Annehmlichkeiten hat. Das wiederhergerichtete Herrenhaus wäre die Kirsche auf der Torte.
Bettina Bouresh wäre es recht, wenn nicht nur erinnert, sondern vor allem für die Bewohner der Gegend ein Mehrwert geschaffen wird. Anfang der Neunziger kam sie aus dem Ruhrgebiet das erste Mal hierher, damals noch mit ihrer Mutter, die aus Masuren stammte. Familiäre Verbindungen zu Lehndorff hat Bouresh nicht, aber das Haus und die Landschaft hatten es ihr angetan. Mithilfe einer polnischen Freundin kämpfte sie jahrzehntelang um Förderung und Unterstützer, gründete die Lehndorff-Gesellschaft. Fünf Millionen Euro kamen schließlich aus dem Haushalt des Bundestags. Auch von polnischer Seite fließt Geld.
Land und Leute waren bei Boureshs ersten Besuchen noch viel stärker von den Folgen des Krieges geprägt und versehrt von den Jahren des Kommunismus. In den ehemals deutschen Gebieten wurden nach dem Krieg Menschen aus den früheren polnischen Ostgebieten angesiedelt, einige davon ukrainischer Abstammung. Viele wurden nie richtig heimisch, fürchteten deutsche Rückforderungen.
Sie habe viel Misstrauen überwinden müssen, sagt die Kunsthistorikerin, die heute Mitte siebzig ist. Aber für sie sei es nie nur ein deutsches Projekt gewesen: „Ich wollte immer etwas Deutsch-Polnisches.“
Ihr Vorhaben, junge Leute anzuziehen, hat sie eigentlich schon erreicht. Jedes Jahr leisten Handwerksmeister und Bautechnikschüler aus München ehrenamtliche Arbeitseinsätze, damit die polnisch-deutsche Baustelle nicht einstürzt. Eine sorgfältig abgestützte Kellerdecke, ein paar Augustiner-Kronkorken und eine kleine Erklärtafel am Haus zeugen von den Einsätzen. „Wir sind überzeugte Europäer“, steht darauf: „#frieden“.