Polen:Wie das neue Kindergeld das Leben vieler Polen verändert

Polen: In Praga, einem Stadtteil Warschaus, liegt das Durchschnittsgehalt unter 1000 Euro. Wer hier Kinder großzieht, hat selten Geld für Luxus.

In Praga, einem Stadtteil Warschaus, liegt das Durchschnittsgehalt unter 1000 Euro. Wer hier Kinder großzieht, hat selten Geld für Luxus.

(Foto: Czarek Sokolowski/AP)
  • Polens Regierung hat ihren Bürgern vor der letzten Wahl ein neues Kindergeld versprochen und ihr Versprechen gehalten.
  • Erst seitdem es die Leistung gibt, können sich viele Familie Dinge leisten, die eigentlich selbstverständlich sein sollten.
  • Ein Nebeneffekt der Regelung: Weniger Frauen gehen zur Arbeit.

Von Florian Hassel, Poświętne

Die Familie Ludwiniak ist gewohnt, über jede Ausgabe erst einmal nachzudenken. Kein Wunder, wenn man drei Kinder großzieht und dabei vor allem auf das Gehalt von Vater Artur als Busfahrer in der polnischen Provinz angewiesen ist. Soll die Familie nach der Sanierung von Dach und Bad ein weiteres Zimmer renovieren? Ist der Ausflug per Bus ins Schwimmbad drin, für umgerechnet 3,20 Euro Fahrgeld und den Eintritt von 2,30 Euro pro Kind? Und reicht das Geld für den Ausflug mit dem Kirchenchor? "Wir haben immer mit spitzem Bleistift rechnen müssen", sagt Mutter Monika Ludwiniak. "Bis vor einem Jahr. Bis zu 500 plus."

Denn Anfang April 2016 führte die damals noch neue Regierung ein neues, großzügiges Kindergeld ein. Zuvor hatte die nationalkonservative Partei "Recht und Gerechtigkeit" (Pis) mit der Losung "Familie 500+" Wahlkampf gemacht. Die Pis versprach 500 Złoty, umgerechnet 115 Euro, für jedes Kind ab dem zweiten Kind in einer Familie. Viel Geld in einem Land mit einem Durchschnittslohn von knapp 1000 Euro und noch geringeren Gehältern von 600 oder 700 Euro auf dem Land. Die Vorgängerregierung warnte vor den hohen Kosten - und verlor. Für die Pis trug das "500+"-Versprechen zum Wahlsieg bei. Und seine tatsächliche Einführung zur andauernden Unterstützung der Regierung durch viele Polen.

Eine Woche Sommercamp für weniger als 200 Euro. Früher konnten da viele nicht mitfahren

Für die Ludwiniaks, die eine Autostunde nordöstlich von Warschau in der 6000-Seelen-Gemeinde Poświętne leben, machen monatlich 230 Euro mehr in der Familienkasse einen großen Unterschied. "Wir müssen für Kleidung nicht mehr ausschließlich ins Second-Hand-Geschäft, sondern können den Kindern auch mal etwas Neues kaufen", sagt Monika Ludwiniak, eine 38 Jahre alte gelernte Schneiderin. "Wir können uns die Ausflüge leisten." Auch die Monatsrate von 120 Euro für einen Zehn-Jahres-Kredit sorgt nicht mehr für häufiges Kopfzerbrechen.

Im zur Gemeinde gehörenden Dorf Choiny ist der 40 Jahre alte Marcin Skonieczny nicht nur Dorfvorsteher und mit seiner Frau Agnieszka Chef von vier privaten Kindergärten, sondern leitet auch den katholischen Jugendkirchenchor. "Wenn wir im Sommer für die Kinder eine Woche Urlaub am Meer für 850 Złoty pro Kind (unter 200 Euro) anboten, konnten viele Familien ihre Kinder nicht mitschicken", sagen die Skoniecznys. Neben und hinter ihnen drängeln sich ihre fünf Kinder auf dem Sofa. Die Familie nutzt das Geld aus 500+, um ihre Kinder nicht mehr auf eine kostenlose öffentliche Schule zu schicken, sondern auf eine katholische Privatschule.

Vor der Wahl im Oktober 2015 "haben bei uns alle darüber diskutiert, ob die Pis ihr Kindergeld-Versprechen auch umsetzen würde", blickt Skonieczny zurück. "In den letzten 25 Jahren hat in Polen eigentlich keine Partei ihre Wahlversprechen tatsächlich gehalten. Das ist das erste Mal." Und Monika Ludwiniak sagt: "Früher haben wir uns mit mehreren Kindern von unserer Regierung vernachlässigt gefühlt."

Das war nicht nur in Poświętne so, wo auch das Freizeitangebot für Kinder gering ist und etwa ein Konzert einer Pink-Floyd-Coverband in der 15 Kilometer entfernten Kleinstadt Wołomin Wochen im voraus angekündigt wird. Anna Rochowska lebt in Warschau, ist am modernen Theater Warszawa für die Bildungsarbeit zuständig und zieht mit ihrem Mann Marcin, ebenfalls am Theater, vier Kinder groß. "Durch das Kindergeld fühle ich mich mit meiner Familie zum ersten Mal überhaupt vom polnischen Staat ernst genommen", sagt die 44 Jahre alte Mutter.

"Seit es 500+ gibt, kommen auch Obst und Gemüse auf den Tisch"

"Wer am Theater arbeitet", sagt Rochowska, "kommt gerade so über die Runden". Für Anna und Marcin Rochowska reicht das Geld nur, weil sie mit den Kindern in einer von den Eltern übernommene 70-Quadratmeter-Wohung leben und keine Miete zahlen müssen. Fuhren die Rochowkas im Sommer an die Ostsee, lag das Budget für zehn Tage Zelturlaub bei unter 500 Euro. "Wir haben immer bescheiden gelebt und uns vor allem von Nudeln und Kartoffeln ernährt", sagt Anna Rochowska. "Seit es 500+ gibt, kommen auch Obst und Gemüse auf den Tisch. Und wir können etwa unserer Tochter Ida auch eine wöchentliche Stunde Schlagzeugunterricht bezahlen."

Was aber bringt 500+ gesellschaftlich? Die Regierung kostet das Kindergeldprogramm jährlich umgerechnet gut fünf Milliarden Euro - nicht wenig bei einem Staatshaushalt von umgerechnet gerade 83 Milliarden Euro. Familien- und Arbeitsministerin Elżbieta Rafalska zufolge beziehen die Eltern von 3,87 Millionen polnischen Kindern 500+ - gut die Hälfte aller polnischen Kinder unter 18. Kinderarmut sei so "praktisch eliminiert", lobte sich die Ministerin. Ökonomen von Weltbank oder EU-Kommission sind zurückhaltender. Doch auch sie sehen eine Verringerung von Armut in kinderreichen Familien. Erste Zahlen aus Wöchnerinnenstationen deuten an, dass das Programm in Polen auch die Geburtenrate - bisher eine der niedrigsten in Europa - steigen lässt.

Die Kehrseite: Nur 2016 waren die Milliardenkosten für das Kindergeld durch Sondererlöse wie Privatisierungen gedeckt. Jetzt steigen Haushaltsdefizit und Staatsverschuldung. Zudem befürchten manche, dass das Kindergeldprogramm die Abhängigkeit Hunderttausender Polen von Sozialleistungen zementieren könnte. 45 Prozent der Sozialleistungen beziehenden Polen sind im arbeitsfähigen Alter, doch vor allem auf dem Land oft arbeitslos. 500+ wird nicht mit anderen Leistungen verrechnet, sondern zusätzlich gezahlt.

Aneta Zajac, Leiterin des Sozialamtes der Gemeinde Stary Brus, berichtete dem Wochenmagazin Polityka, seit Beginn von 500+ bezögen einige Einwohner der armen Gemeinde an der Grenze zur Ukraine Sozialleistungen von umgerechnet gut 1000 Euro monatlich. Der Mindestlohn in Polen liegt bei umgerechnet knapp 430 Euro. "Wozu noch arbeiten?", kommentierte die Sozialamtsleiterin die Unlust vieler Klienten, auf Jobangebote einzugehen.

Polnische Frauen bleiben zudem öfter zu Hause als in anderen EU-Ländern: Während 73,6 Prozent der deutschen Frauen arbeiten gehen und gar 78 Prozent der Schwedinnen, haben nur knapp 61 Prozent der Polinnen einen Job, so Zahlen der EU-Statistikbehörde Eurostat. Das Kindergeld-Programm sorgt ersten Forschungen zufolge für einen weiteren Rückzug vieler Polinnen vom Arbeitsmarkt.

Ein Nebeneffekt des Geldsegens? Noch mehr Frauen arbeiten nicht mehr

Der politische Nutzen des Programms für die Pis ist zumindest auf den zweiten Blick nicht eindeutig. "Ich habe schon vor 500+ die Pis gewählt", sagt Monika Ludwiniak. "Hier in Poświętne gehen wir fast alle am Sonntag in die Kirche und wählen Pis. Das ist hier auf dem Land normal." Und während kinderreiche Familien einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes CBOS zufolge die Pis mehrheitlich unterstützen, hat sich die Partei bei der anderen Hälfte polnischer Eltern erbitterte Gegner gemacht: bei Familien und Alleinstehenden mit nur einem Kind. Denen versprach die Pis im Wahlkampf ebenfalls das neue Kindergeld. Einmal an der Regierung, strich die Pis das Kindergeld für Ein-Kind-Familien mit wenigen Ausnahmen und spart so jährlich einige Milliarden.

Auch die Begeisterung von Anna Rochowska in Warschau für die Pis ist stark abgekühlt, wenn auch nicht wegen des Kindergeldes. Zwar kommt die Theaterfrau aus einer traditionellen, auf katholische und nationalkonservative Werte ausgerichteten Familie und hat jahrelang Pis gewählt. Trotzdem findet sie, dass Kultur vielfältig sein sollte. "Die Pis kann mit der Freiheit der Kunst nichts anfangen. Das macht mich wütend." Ihr missfällt der Umbau des Staates. "Die Pis benimmt sich jetzt sehr arrogant und sagt, dass ihr alles erlaubt sei". Würde heute wieder gewählt, würde Anna Rochowska nicht mehr für die Pis stimmen. Trotz Kindergeld.

Monika Ludwiniak in Poświętne plagt eine andere Sorge. "Wie lange können wir uns als Land 500+ leisten?. Viele Familien, die das höhere Kindergeld bekommen, haben jetzt Kredite aufgenommen. Es ist fraglich, ob sie die noch bedienen können, wenn die Regierung wieder wechselt. Oder kein Geld für 500+ mehr in der Kasse ist."

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