Süddeutsche Zeitung

Polen:Schleichende Demontage

Die Regierung will die Justiz unter ihre Kontrolle bringen. Einige Richter setzen auf den EuGH, der entscheiden soll, ob Warschau EU-Recht verletzt.

Von Florian Hassel, Warschau

Es war im Sommer 2018, als Igor Tuleya und Ewa Maciejewska den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in Luxemburg um Urteile baten, ob neue Disziplinarregeln für Polens Richter die von der EU verlangte Unabhängigkeit der Justiz verletzten oder nicht. Kurz darauf wurden Tuleya, Richter am Warschauer Regionalgericht, und seine Kollegin Maciejewska vom Regionalgericht in Łódz nach Warschau bestellt: Dort wurden die beiden Richter ab Herbst 2018 von einem neuen Disziplinarbeauftragten wegen angeblicher "juristischer Exzesse" verhört. Ein einfacher Richter habe, so die von der Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) verbreitete Sicht, kein Recht, sich an die EU zu wenden.

Kurz nach Ostern legte Warschau nach. In der Nacht auf den 27. April verabschiedete das von der PiS kontrollierte Parlament ein Gesetz, das erst wenige Stunden zuvor eingebracht worden war: Es soll mit rückwirkender Wirkung verhindern, dass sich Polens Juristen im Ringen um den Rechtsstaat in der zentralen Frage politischer Kontrolle an die EU-Justiz wenden können. "Es ist besser, dass es keinen Vorwand gibt, Polen vor internationale Institutionen zu schleppen", kommentierte der PiS-Europaabgeordnete Ryszard Czarnecki den Sinn des Blitzgesetzes - das freilich seinerseits dem EU-Recht widersprechen dürfte.

Seit ihrem Amtsantritt 2015 beschloss Polens Regierung nach Zählung der EU-Kommission schon bis Ende 2017 mehr als 13 Gesetze, die "systematisch ermöglichten, in Zusammensetzung, Vollmachten, Verwaltung und Funktion der Justiz politisch einzugreifen" - im Klartext: eine unabhängige Justiz in Polen abzuschaffen. Staatsanwaltschaften, Juristenschulen, Gerichte aller Ebenen wurden der Kontrolle der Partei unterstellt. Polens Justizminister, der auch Generalstaatsanwalt wurde, entließ ohne Begründung 158 Gerichtspräsidenten oder ihre Stellvertreter.

2018 wurde der mit der Richterauswahl befasste Landesjustizrat (KRS) faktisch der Regierung unterstellt. Am Obersten Gericht, letzte Instanz in allen Zivil-, Straf- und Wirtschaftsverfahren, entstand eine der Aufsicht des Gerichtspräsidenten entzogene, regierungskontrollierte Disziplinarkammer, die jeden Richter oder Staatsanwalt entlassen kann. Eine weitere Sonderkammer kann jedes rechtskräftige Urteil der letzten zehn Jahre in Polen nachträglich aufheben - westliche Rechtsexperten etwa der Venedig-Kommission sehen dies als Rückkehr zur Unrechtsjustiz der Sowjetzeit.

Warschau beharrt auf seinen Gesetzen, die faktisch den Rechtsstaat abschaffen

All diese Gesetze brechen unabhängigen Juristen zufolge auch die polnische Verfassung. Doch das Verfassungsgericht ist nach ebenfalls rechtswidrigen Manövern und Besetzungen seit Ende 2016 nicht mehr unabhängig und entscheidet nur noch im Sinne der Regierung - zuletzt am 25. März, als es die Kontrolle des KRS durch die Regierungsmehrheit für rechtmäßig erklärte.

Noch unabhängig urteilende Richter erkennen kein Urteil des Verfassungsgerichts an, wenn an ihm etwa ein Richter beteiligt ist, den die PiS zu Beginn ihrer Regierungszeit anstelle bereits legal gewählter, unabhängiger Richter rechtswidrig durchsetzte. Das Gleiche gilt für KRS und Oberstes Gericht (SN): Allein am SN wurden bereits 38 Richter mutmaßlich rechtswidrig ernannt. Ihre Entscheidungen können vor europäischen Gerichten angefochten werden, weil von mutmaßlich politisch abhängigen Richtern gefällt.

Bereits jetzt haben sich noch unabhängig ernannte Richter des Obersten Gerichts, des Obersten Verwaltungsgerichts und einfache Richter wie Igor Tuleya aus Warschau oder Ewa Maciejewska aus Łódz an den EuGH gewandt. Entgegen der von der PiS verbreiteten Propaganda hat dieses Recht nach Artikel 267 des EU-Vertrages jeder Richter eines EU-Staates ohne Einschränkung. Den Luxemburger Richtern liegen aus Polen bereits mindestens zehn Anträge auf Eilentscheidungen vor, dazu kommen mehrere Verfahren der EU-Kommission gegen Polen. Am 14. Mai etwa berät der EuGH, ob der Landesjustizrat KRS und die neue Disziplinarkammer am Obersten Gericht politisch abhängig sind und damit EU-Recht verletzen.

Bereits Ende 2018 entschieden die EuGH-Richter, eine rückwirkend eingeführte Altersgrenze für oberste Richter, die zudem für Männer und Frauen unterschiedlich ausfiel, breche EU-Recht. Daraufhin änderte Warschau das entsprechende Gesetz. Die entlassene Gerichtspräsidentin Małgorzata Gersdorf und andere Richter kehrten in ihre Ämter zurück. Allerdings konnte sich Warschau ein Nachgeben leisten: Die Amtszeit der für eine unabhängige Justiz stehenden Gerichtspräsidentin endet ohnehin am 30. April 2020.

Von dieser Ausnahme abgesehen aber beharrt Warschau auf seinen Gesetzen, die faktisch den Rechtsstaat abschaffen. Im Februar dokumentierte ein Bericht des Komitees zur Verteidigung der Justiz Dutzende Fälle, in denen für eine unabhängige Justiz eintretende Staatsanwälte und Richter unter Vorwänden versetzt, abgeschoben oder mit Disziplinarverfahren überzogen wurden - etwa, weil sie sich an die EU gewandt haben.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4434738
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 07.05.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.