Süddeutsche Zeitung

Polen:Regierung vor dem Bruch

Die übermächtige Regierungspartei PiS erwägt, die Koalition mit ihren beiden kleineren Partnern aufzukündigen. Dann könnte Polen auf vorgezogene Neuwahlen zusteuern - oder eine Minderheitsregierung bekommen.

Von Florian Hassel, Warschau

Polens Regierung steht vor einer Umgestaltung - wenn dies nicht gelingt, könnte die Koalition auch zerbrechen. Die führende Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) beriet am Montag, ob sie die Koalition mit ihren bisherigen Partnern - der Partei "Solidarisches Polen" von Justizminister Zbigniew Ziobro und der Partei "Verständigung" des langjährigen Vize-Ministerpräsidenten Jarosław Gowin - aufkündigen solle.

Die Zeitung Gazeta Wyborcza berichtete unter Berufung auf Beteiligte, der formelle Beschluss zur Aufkündigung der Regierungskoalition liege als Entwurf vor. Kündigt die PiS tatsächlich die Koalition auf, führt sie Polen womöglich schon von dieser Woche an durch eine Minderheitsregierung, das Land würde dann auf eine vorzeitige Neuwahl zusteuern. "Es sieht so aus, als ob wir auf eine Minderheitsregierung zugehen", zitierte die Zeitung einen der Beteiligten.

Möglich ist indes auch, dass die PiS unter ihrem Chef Jarosław Kaczyński eine Fortführung der Koalition anbietet, doch mit drastisch gesunkenem Einfluss ihrer bisherigen Partner. "Mit Sicherheit müssen die kleinen Parteien, die Teil der vereinigten Koalition sind, ihren Appetit zügeln. Wenn sie dies tun, werden wir versuchen, uns noch einmal zu verständigen", sagte Ryszard Terlecki, PiS-Fraktionschef im Parlament und Vertrauter Kaczyńskis, vor dem Beginn der Beratung in der PiS-Parteizentrale.

Hintergrund des möglichen Endes der seit 2015 als "Vereinigte Rechte" regierenden Drei-Parteien-Koalition sind zunehmende Differenzen der PiS mit ihren Koalitionspartnern, die im Parlament zusammen nur 37 Abgeordnete gegenüber 198 der PiS stellen, doch über großen Einfluss verfügen und wichtige Ministerämter besetzen.

Schon im Mai stand das Bündnis in Warschau kurz vor dem Aus

Der Führer der Partei "Verständigung", Jarosław Gowin, verweigerte im April die Zustimmung zu einer eine ursprünglich für den 11. Mai angesetzten, wegen Corona ausschließlich als Briefwahl rechtswidrig geplanten Präsidentschaftswahl und brachte die Regierungskoalition bereits damals kurz vor ihr Ende. Jarosław Gowin und Zbigniew Ziobro, politisch radikaler Justizminister-Generalstaatsanwalt und Chef des "Solidarischen Polen", kämpfen in der Regierung um Ministerämter und Pfründe und sollten bei einer anstehenden Regierungsverkleinerung Ministerämter verlieren. Ziobro liegt zudem im erbitterten Streit mit Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, der als Kronprinz von PiS-Chef Kaczyński und als dessen möglicher Nachfolger gilt.

Beide Koalitionspartner verweigerten in der vergangenen Woche ihre Zustimmung zu einem von Kaczyński geförderten Tierschutzgesetz und vor allem zu einem Gesetz, das Amtsträger für Rechtsverstöße während der Corona-Krise straffrei stellen soll. Das Gesetz wäre etwa für Ministerpräsident Morawiecki von Bedeutung: Dem Urteil eines Warschauer Verwaltungsgerichts vom 15. September zufolge verstieß der Regierungschef bei der Organisation der Präsidentschaftswahl gegen geltendes Recht.

Kaczyński und große Teile seiner Partei sollen dafür sein, die widerspenstigen Koalitionspartner aus der Regierung zu befördern. Ohne die 19 Abgeordneten des "Solidarischen Polen" und 18 Abgeordnete der "Verständigung" aber hat die selbst nur 198 Abgeordnete stellende PiS keine Mehrheit im 460 Sitze zählenden Parlament. Möglich ist auch, dass vor allem Ziobro in letzter Minute klein bei gibt und dem umstrittenen Straffreiheitsgesetz doch noch zustimmt.

Freilich ist auch eine Minderheitsregierung denkbar. Weder das "Solidarische Polen" noch die "Verständigung" kämen zwei am Montag veröffentlichten Umfragen zufolge bei einer Neuwahl wieder ins Parlament: Deshalb könnten sie Interesse haben, Gesetzesentwürfen der PiS selbst außerhalb der Regierung weiter zuzustimmen, um die Amtszeit des Parlaments voll auszuschöpfen. Die PiS könnte auch versuchen, eine neue Koalition zu bilden, etwa mit Abgeordneten der Bauernpartei PSL oder der rechtsnationalistischen Konföderation. Oder sie könnte versuchen, ihre Position in einer vorgezogenen Neuwahl zu stärken und künftig ganz ohne Partner zu regieren. Aktuellen Umfrage zufolge würde die PiS eine absolute Mehrheit allerdings verfehlen.

Legale Voraussetzung für eine vorgezogene Neuwahl in Polen wäre zudem die vorzeitige Auflösung des Parlaments. Dafür ist ein Beschluss mit Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten erforderlich, die der PiS fehlt, aber mit Hilfe der Opposition zustande kommen könnte. Zweite Möglichkeit: Der Rücktritt der Regierung und zweimaliges Scheitern eines neuen Kandidaten als Regierungschef. Variante drei: Das Haushaltsgesetz könnte durchfallen - vier Monate, nachdem es im Parlament eingebracht worden ist.

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SZ vom 22.09.2020
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