Süddeutsche Zeitung

Polen:Frauen, Bauern, Lkw-Fahrer

Mehr Menschen denn je protestieren in dem Land - trotz Pandemie. Was mit dem Abtreibungsverbot begonnen hat, ist inzwischen so viel mehr. Selbst Angehörige des Regierungslagers fragen sich, wie sich PiS-Chef Kaczyński so verkalkulieren konnte.

Von Florian Hassel, Warschau

Hunderttausende Polen haben am Freitag wieder gegen das am 22. Oktober verhängte faktische Abtreibungsverbot protestiert. Allein an drei Protestmärschen in Warschau nahmen etliche Zehntausend Menschen teil. "Morawiecki - verpiss dich!", riefen Organisatorinnen des Allpolnischen Frauenstreiks vor der Kanzlei der polnischen Regierungschef Mateusz Morawiecki. Tausende Menschen brachen später unter Techno-Musik und von mit rotem Licht untermalten Rauschschwaden zur Großkundgebung in der Nähe des Kulturpalastes im Stadtzentrum auf.

Protestiert wurde auch in Posen, Krakau oder Danzig und Hunderten weiterer polnischer Städte . Die Regierung hatte Tausende Polizisten und Videoaufnahmen des Oppositionsparlamentariers Michał Szczerba zufolge auch Soldaten nach Warschau beordert. Szczerba zufolge war es das erste Mal seit der Verhängung des Kriegsrechts Ende 1981. Polens Sicherheitsblock einschließlich des Verteidigungsministeriums untersteht seit Anfang Oktober dem als Vize-Ministerpräsident in die Regierung eingetretenen Chef der Regierungspartei PiS, Jarosław Kaczyński.

Die seit einer Woche andauernden Demonstrationen sind die mit Abstand größten Proteste seit Antritt der PiS-Regierung Ende 2015. Und sie umfassen, anders etwa als frühere Proteste wegen des Vorgehens der Regierung gegen unabhängige Gerichte, das ganze Land, selbst Kleinstädte und bisherige Hochburgen der Regierung. Bereits am Mittwoch protestierten in 410 Orten schätzungsweise 430 000 Menschen, überschlug Polens Polizeichef General Jarosław Szymczak im Radio. Ob diese Zahl am Freitag noch übertroffen wurde, war zunächst unklar. Frauenstreik-Führerin Marta Lempart sprach von über 100 000 Demonstranten allein in Warschau. Zehntausende Demonstranten machten sich nach der zentralen Kundgebung auf den Weg zum Privathaus von Kaczyński im Norden der Hauptstadt. Ultranationalisten und Hardcore-Fußballfans versuchten an mehreren Stellen, die Protestmärsche anzugreifen; die Polizei setzte mehrmals Tränengas ein und nahm Dutzende Angreifer fest.

In der Exekutive herrsche "Chaos", berichtet eine regierungsnahe Zeitung

Längst gehen die Proteste über Forderungen nach einem liberalen Abtreibungsrecht hinaus, fordert der "Frauenstreik" auch den Rücktritt der Regierung und der Verfassungsgerichtspräsidentin sowie unabhängige Gerichte. Die Frauen werden von anderen Gegnern der Regierung unterstützt, am Mittwoch etwa gesellten sich Bauern zu den protestierenden Frauen in Warschau. Am Freitagmittag wollten Lastwagenfahrer an vielen Stellen Polens aus Solidarität mit den Frauen die Straßen für eine Stunde blockieren. Im Regierungslager herrsche "Chaos", habe die PiS, überrascht von der Größenordnung der Proteste, "keinerlei Idee, was zu tun ist", resümierte die regierungsnahe Tageszeitung Rzeczpospolita.

Kaczyński hatte Demonstranten bereits am Dienstag als Nihilisten und Verbrecher beschimpft, die Polen zerstören wollten. Kaczyński rief "alle Mitglieder der PiS und diejenigen, die uns unterstützen", auf, Polen vor den angeblichen Angriffen auf das Land und vor allem auf katholische Kirchen zu schützen. In der Folge kam es schon bei vorangegangenen Protesten zu Angriffen von Ultranationalisten.

Das Verbrecher-Prädikat bekamen von Kaczyński auch Oppositionspolitiker, die zudem "russische Agenten" seien. Justizminister-Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro ließ am Mittwoch allen polnischen Staatsanwälten schreiben: Organisation und Aufruf zu den - wegen umstrittener Corona-Versammlungsverbote - angeblich "nicht legalen Demonstrationen" seien als Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit anderer nach Artikel 165 des Strafgesetzbuches zu verfolgen - darauf stehen bis zu acht Jahre Gefängnis. Der regierungskontrollierte Fernsehsender TVP überging die Proteste oder diffamierte deren Anführerinnen. Bildungs-und Wissenschaftsminister Przemysław Czarnek drohte Universitäten, die Studenten die Teilnahme an Protesten ermögliche, mit dem Streichen von Forschungsgeldern. Doch statt kleiner sind die Proteste nur noch größer geworden. Und die größte Oppositionspartei KO und rund 1000 Anwälte wollen festgenommenen Frauen kostenlos beistehen.

Rechtsexperten zweifeln die Legitimität des Urteils des Verfassungsgerichts an

Analysten und selbst Angehörige des Regierungslagers rätseln, was Kaczyński bewogen hat, ausgerechnet jetzt das von ihm kontrollierte Verfassungsgericht das Abtreibungsverbot aussprechen zu lassen - und den vorhersehbaren Zorn der Polinnen auf sich zu ziehen. Nach übereinstimmenden Umfragen ist eine große Mehrheit der Bevölkerung gegen ein Abtreibungsverbot - und unterstützt die Proteste. Dem Meinungsforschungsinstitut Kantar zufolge ist die Zustimmung für die PiS und ihre Koalitionspartner von 43,6 Prozent bei der Parlamentswahl 2019 auf jetzt nur noch 26 Prozent gefallen.

Anders als Kaczyński waren Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und Polens Präsident Andrzej Duda zurückhaltender. Duda kündigte einen Gesetzentwurf an, der Abtreibungen unter gewissen Umständen zulassen solle. Das Urteil des Verfassungsgerichts vom 22. Oktober setzt diesem möglichen Gesetz freilich enge Grenzen. Eine künftige Regierung oder wieder unabhängige Gerichte könnten das Urteil vom 22. Oktober später als "nicht existent" bewerten, wie es heute schon führende Juristen tun. Denn an dem Verdikt waren drei parteinahe Juristen beteiligt, die die PiS ab Ende 2015 rechtswidrig anstelle von drei rechtskonform unter der Vorgängerregierung gewählten Verfassungsrichtern installierte: Ihre Teilnahme macht jedes Verfahren juristisch ungültig, argumentieren etliche Fachleute. Die angesehene Richtervereinigung Iustitia forderte am Mittwoch gar die Auflösung des bestehenden, weithin diskreditierten Verfassungsgerichts und eine umfassende Neuordnung der parteikontrollierten Justiz. Die Regierung indes soll die Rückkehr zu einem Shutdown planen, bei dem Polen das Verlassen der Wohnung nur zum Einkaufen oder zur Arbeit gestattet wäre.

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