Eigentlich viel zu spät erscheint dieses Buch und andererseits zum genau richtigen Zeitpunkt: Wolfgang Templins Biografie von Józef Piłsudski erzählt von Polen, Litauen, der Ukraine, Russland, Deutschland, Österreich. Erzählt von einer Nation, der die Identität abgesprochen, der Staat verwehrt wird, von Kämpfern, die sich damit nicht abfinden wollen. Von Menschen, die mit ihrem Willen zur Unabhängigkeit und ihren politischen Ideen nicht nur ihr Land, sondern Europa geformt und verändert haben. Aktueller könnte das Buch nicht sein.
Bis heute ein Held - und auch umstrittene Ikone
"In Polen kennt ihn jedes Kind", beginnt Wolfgang Templin sein Buch über den "Revolutionär und Staatsgründer", so der Titel der Biografie. Sie könnte auch Posträuber und Kommandant heißen oder Staatsfeind und Sozialist. Piłsudski starb 1935 im Alter von 67 Jahren, was er erlebte, reicht für zehn Leben. Gebürtig aus litauischem Adel, aufgewachsen im Bewusstsein für die unterdrückte polnische Nation und Kultur, als fast noch Jugendlicher nach Sibirien verbannt, wird aus dem jungen Mann ein Mitbegründer der polnischen sozialistischen Partei, Berufsrevolutionär, zweimaliger Ehemann, schließlich Staatsoberhaupt der polnischen Republik nach 1918. Bis heute ein Held und wie es mit Nationalhelden oft so geht, auch umstrittene Ikone.
Polnisch-Sowjetischer Krieg: "Alle Seiten massakrierten Juden"
Im Frühjahr 1921 endet ein blutiger Krieg, der fast vergessen ist. Historiker Stephan Lehnstaedt erklärt, wie es zu Reiterschlachten kommt, warum damals gezielt Zivilisten ermordet werden und wieso der Konflikt als "Urkatastrophe" Osteuropas gilt.
Templin tut nun einiges dafür, damit ihn in Deutschland wenigstens ein paar mehr Erwachsene kennenlernen. Sein Protagonist macht es ihm leicht, Piłsudskis bewegtes Leben ist an sich schon fesselnd, Templin aber hat daraus einen Abenteuerroman im besten unterhaltenden Sinne gemacht und zugleich ein Nachschlagewerk geschaffen, in dem viele Kapitel in dem übersichtlich gegliederten Werk dazu taugen, auch auf die Schnelle noch mal die Zeit der Staatsgründung 1918 oder die ersten konspirativen Tätigkeiten des jungen Józef gegen das russische Zarenreich 1887 nachzulesen.
Sehr viel polnische Literatur ist nicht übersetzt
Templin leistet damit nicht nur etwas für die Bekanntheit des Marschalls in Deutschland, der die gleiche Berühmtheit wie etwa Winston Churchill verdient hätte. Templin tut auch etwas für die deutsch-polnische Verständigung - und die ist von deutscher Seite nicht so einfach, mangels Informationsmöglichkeiten. Immerhin, eines der Bücher, die der junge Piłsudski auf dem Landsitz seiner aus altem litauischen Adel stammenden Eltern las, gibt es auch auf Deutsch: den Roman "Pan Tadeusz" von Adam Mickiewicz, den Templin in seiner Bedeutung für die Polen mit Goethes "Faust" für die Deutschen vergleicht. Viele andere Autoren des klassischen polnischen Kanons sind nicht übersetzt. Auch die Schriften des von Templin im letzten Kapitel erwähnten Adam Michnik, früher Dissident, heute Chefredakteur der Tageszeitung Gazeta Wyborcza, sind derzeit nicht auf Deutsch erhältlich.
Wolfgang Templin setzt allerdings kein Vorwissen voraus. Es könnte eben nur enttäuscht werden, wer sich, von Templins Buch angeregt, mit Piłsudskis Kindheitsbüchern oder den Werken einiger Weggefährten befassen möchte. Unter ihnen die Autorin Maria Dąbrowska (1889 - 1965), deren Bücher bezeichnenderweise zuletzt in der DDR herausgegeben wurden. Bis in die DDR-Zeiten zurück reicht auch Templins Interesse und Begeisterung für Polen. Im Studium in den Siebzigerjahren knüpfte er Kontakte zur polnischen Opposition, engagierte sich später in der Bürgerrechtsbewegung der DDR, war Mitbegründer von Bündnis 90.
Freundschaft zu Bebel und Liebknecht
Dass Deutsche und Polen mit ähnlichen politischen Vorstellungen sehr gut zusammenarbeiten und sich gegenseitig inspirieren können, das war schon zu Piłsudskis Zeiten so. Obwohl Preußen, Österreich und Russland Polen damals unter sich aufgeteilt hatten. In dem Sozialisten August Bebel fand der junge Piłsudski einen begeisterten Mentor, Templin nennt Bebel wie auch Wilhelm Liebknecht "unverbrüchliche Freunde Polens", auch Friedrich Engels war laut Templin "leidenschaftlicher Unterstützer der polnischen Sache" - und die deutsche Obrigkeit, das Kaiserreich, war der gemeinsame Feind.
Templin beschreibt diese europäische, internationale Zusammenarbeit sehr anschaulich - die gegenseitige Unterstützung war geprägt von heimlicher Vervielfältigung und Verbreitung politischer Werke. So gelang es Piłsudskis erster Frau Maria, schon vor ihrer Heirat eine glühende Kämpferin gegen die russische Unterdrückung, einmal, 75 Exemplare von Bebels "Die Frau und der Sozialismus" unter ihrer ausladenden Kleidung zu verstecken, mehr als 30 Kilo Bücher trug sie laut Templin so am Leibe mit sich.
Templin gelingt es, die spannende Lebensgeschichte Piłsudskis nachzuvollziehen, aber auch seinen vielen Weggefährten, Kontrahenten, Helfern ein Gesicht zu verleihen, ohne sich zu verzetteln. Im Vorübergehen und dennoch einprägsam flicht er die Geschichte Rosa Luxemburgs ein, die anders als Piłsudski nicht an ein unabhängiges, geeintes Polen glaubt. Als Jüdin, deren Muttersprache zwar Polnisch ist, habe sie von den Polen zu viel Ausgrenzung erfahren, erklärt Templin. Luxemburg, mehrsprachig und weltgewandt, konzentriert sich auf den internationalen Aufstand gegen die herrschende Klasse.
In der Rolle des Bauern und des Beamten
Piłsudski nutzt seine vielen Sprachkenntnisse, wie Templin beschreibt, auch, um bei seinen Untergrundtätigkeiten immer wieder in neue Rollen zu schlüpfen. Tritt als vermeintlicher polnischer Beamter ebenso auf wie als ukrainischer Bauer - er hatte einst eine Weile in Charkiw studiert. Später in Sibirien trifft er auf ukrainische Verbannte. Man fröstelt beim Lesen, wenn dann beschrieben wird, wie sich die Ukrainer dagegen wehren, dass ihnen jegliche eigene Kultur abgesprochen, ihre Sprache verboten wird.
Nichts gelernt also? In mancher Hinsicht nicht, manche Kämpfe sind nicht gewonnen und werden heute in der Ukraine wieder grausam ausgetragen. Auch dieses Buch erklärt in Teilen, woran das liegt und warum Polen und Litauer so viel anders auf die russische Aggression reagieren als Deutsche oder Franzosen. In anderer Hinsicht hat Europa seit Piłsudski sehr viel gelernt, es ist dank dieser Widerstandskämpfer, dank der Vorkämpfer für eine gerechtere Welt mit weniger Klassenunterschieden, dank der Verteidiger einer eigenen Nation friedlicher, vielfältiger, wohlhabender geworden. Zeit, daran zu erinnern, welchen Menschen das konkret zu verdanken ist - und dass sie, wie jetzt die Ukrainer, nicht nur für ihre eigene Nation, sondern für alle Europäer eingestanden sind.