Polen:Niederlage im Streit mit der EU-Kommission

FILE PHOTO: People walk outside the Supreme Court in Warsaw

Bald ohne unabhängige Richter? Polens Oberster Gerichtshof in Warschau.

(Foto: Kacper Pempel/Reuters)

Die umstrittene Disziplinarkammer für Richter muss ihre Arbeit sofort einstellen.

Von Florian Hassel, Warschau

Polen muss auf Anordnung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) die Tätigkeit einer Disziplinarkammer für polnische Richter am Obersten Gericht des Landes sofort einstellen. Der EuGH folgte damit einem Antrag der EU-Kommission. Die Disziplinarkammer (DK) gehört zu den Schlüsselinstrumenten, mit denen Polens Regierung die Unabhängigkeit der Justiz seit 2015 weitgehend beseitigte und unabhängige Richter, Staatsanwälte, Anwälte und Notare sanktionieren oder aus dem Amt drängen wollte. Vor der DK laufen Dutzende Verfahren gegen noch unabhängige Richter. So wollte sie über die Aufhebung der Immunität des Warschauer Richters Igor Tuleya entscheiden, der von der ebenfalls politisch kontrollierten Staatsanwaltschaft im Rahmen eines Maulkorbgesetzes für Richter angeklagt werden und seines Amtes enthoben werden sollte.

Die Entscheidung des EuGH geht einem endgültigen Urteil zur DK voraus; gegen Polen laufen etliche weitere Verfahren. Die Richter der 2018 gebildeten DK werden vom politisch kontrollierten, rechtswidrig gebildeten Landesjustizrat (KRS) ausgesucht. Noch unabhängige Richter des Obersten Gerichts entschieden auf Grundlage einer Entscheidung des EuGH vom 19. November 2019 am 5. Dezember und 15. Januar 2020, der KRS sei weder unabhängig noch unparteiisch; die Disziplinarkammer sei kein Gericht im Sinne des europäischen Rechts.

Die polnische Regierung erkannte das Urteil indes nicht an; die Disziplinarkammer arbeitete weiter. Die EU-Kommission bat den EuGH deshalb am 23. Januar, Polen jede weitere Tätigkeit der DK zu verbieten - die Grundlage für die jetzt getroffene Entscheidung. Ob Warschau sie umsetzt, ist offen, geht es nach Vize-Justizminister Sebastian Kaleta: "Der EuGH hat keine Kompetenzen zur Einschätzung und noch viel weniger zur Aufhebung von Verfassungsorganen der Mitgliedstaaten. Das heutige Urteil ist ein Usurpationsakt, der die Souveränität Polens verletzt." Der EuGH-Entscheidung zufolge muss Polen der EU-Kommission binnen Monatsfrist Rechenschaft zum Komplettstopp der Disziplinarkammer ablegen. Verweigert Warschau diesen, beantragt Brüssel beim EuGH Strafzahlungen.

Selbst wenn Warschau die Tätigkeit der DK einstellt, ist von der Unabhängigkeit der Justiz nur wenig übrig: Der KRS arbeitet ebenso weiter wie das politisch kontrollierte Verfassungsgericht und eine ebenfalls fragwürdige Aufsichtskammer am Obersten Gericht. Am 31. April endet zudem die Amtszeit von Małgorzata Gersdorf, der für die Unabhängigkeit der Justiz eintretenden Präsidentin des Obersten Gerichts. Am 21. April sollen die Richter des Obersten Gerichts Gersdorfs Nachfolger wählen. Unter ihnen sind bereits Dutzende, die politisch kontrolliert ernannt wurden und deshalb unklar ist, ob sie Richter im Sinne des EU-Rechts sind und an der Wahl überhaupt teilnehmen dürfen.

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