Polen hat am ersten Tag unter einem neuen Regierungschef weitreichende Gesetze beschlossen, die die Justiz wie zu sowjetischen Zeiten der Regierung unterstellen und Experten zufolge polnischem und europäischem Recht widersprechen. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki stellte im Sejm, der unteren Parlamentskammer, sein Programm vor; der Senat, die obere Parlamentskammer, beriet zwei Gesetze zum Obersten Gericht und zum Landesjustizrat. Beide vom Sejm bereits beschlossenen Gesetze wurden dem Senat von der zuständigen Kommission zuvor ohne Änderung zur Annahme empfohlen. Werden die Gesetze wie erwartet noch am Dienstag beschlossen und von Präsident Andrzej Duda unterschrieben, treten sie zwei Wochen später in Kraft und machen den Weg frei zur personellen Neubesetzung und Kontrollübernahme über die Justiz durch die von der nationalpopulistischen Partei "Recht und Gerechtigkeit" (Pis) geführte Regierung.
Ministerpräsident Mateusz Morawiecki konzentrierte sich bei seiner Regierungserklärung auf soziale und wirtschaftliche Themen. Die Regierung will nach einem populären Kindergeldprogramm mit mehr Geld für das kriselnde Gesundheitswesen oder den sozialen Wohnungsbau bei den Wählern punkten. Der Sejm wollte in der Nacht zum Mittwoch über die neue Regierung abstimmen - dies galt angesichts der absoluten Mehrheit der Pis als Formsache.
Abgesehen von Ministerpräsident Morawiecki ist die alte auch die neue Regierung. Pis-Funktionäre hatten zuvor die Ablösung des Verteidigungsministers, des Umweltministers und des Außenministers angedeutet. Vor allem Umweltminister Jan Szyszko und Außenminister Witold Waszczykowski gelten bei der EU-Kommission und anderen europäischen Partnern als diskreditiert. Die Minister blieben indes im Amt. Auch im eigenen Apparat werden der Handlungsspielraum des neuen Ministerpräsidenten offenbar eingeschränkt und die Schlüsselposten mit Mitarbeitern aus der Pis-Parteizentrale besetzt, so die polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza.
Noch bevor im Sejm der neue Regierungschef sprach, bereiteten die Parlamentarier des Senats die Annahme der Justizreform vor. Ein Gesetz löst den bisher mehrheitlich von Richtern beschickten Landesjustizrat (KRS), oberstes Organ zur Wahrung einer unabhängigen Justiz, in seiner bisherigen Form auf: Künftig werden die 25 KRS-Mitglieder mehrheitlich vom Pis-kontrollierten Parlament und vom ebenfalls von der Partei gestellten Präsidenten bestimmt.
Die Sonderkammer kann jedes Urteil aufheben, das in den letzten zwei Jahrzehnten ergangen ist
Ein zweites Gesetz unterstellt das Oberste Gericht - letzte Instanz in Straf-, Zivil- und Wirtschaftsprozessen und entscheidendes Gremium für die Gültigkeit von Wahlen - der Regierung. Die Senkung des Rentenalters macht es möglich, sofort nach Inkrafttreten des Gesetzes 40 Prozent der Richter des Obersten Gerichts zu entlassen - auch die gegen die Regierung auftretende Gerichtspräsidentin Małgorzata Gersdorf. Die neuen Richter würden mehrheitlich von der Pis und vom Präsidenten bestimmt und ernannt. Zudem wird eine neue Disziplinarkammer für Richter geschaffen.
Die weitreichendste Änderung aber ist die Einführung einer "Außerordentlichen Klage" und einer "Außerordentlichen Kammer". Die Sonderkammer kann auf Antrag etwa des Generalstaatsanwalts - in Polen ist dieser auch Justizminister - jedes Urteil aufheben, das in Polen in den letzten zwei Jahrzehnten ergangen ist. Ein neues Verfahren zur Aufhebung eines rechtskräftigen Urteils soll ohne Wissen oder gar Zustimmung der Prozessbeteiligten stattfinden können; zur Aufhebung eines Urteils reicht es etwa aus, dass es gegen "soziale Gerechtigkeit" verstoßen habe.
Ein ähnliches System ohne Rechtssicherheit habe es "in vielen früheren kommunistischen Ländern gegeben", kommentierte die aus Verfassungsexperten bestehende Venedig-Kommission des Europarates. Das neue polnische Justizsystem habe "eine Menge Übereinstimmungen" mit "dem alten sowjetischen System". Die Kontrolle der Justiz durch die Parlamentsmehrheit und den Präsidenten widerspreche der Gewaltenteilung, der polnischen Verfassung und europäischen Rechtsstaatsgrundsätzen, so die Experten.