Süddeutsche Zeitung

Polen:Leben oder Tod als 900-Euro-Frage

Die Regierungspartei setzt alles daran, Abtreibungen unmöglich zu machen. Ein neues Gesetz sieht eine Prämie für Mütter vor, wenn sie unheilbar kranke, schwer behinderte Kinder zur Welt bringen.

Von Florian Hassel, Warschau

Es war Gesetzgebung im Expressverfahren. Erst am vergangenen Mittwoch traf Gesetzentwurf 968 "Über die Unterstützung von schwangeren Frauen und ihrer Familien - Für das Leben" im polnischen Parlament ein. Der Entwurf sah vor, Frauen, die ein schwer behindertes, unheilbar krankes oder zum Tode verurteiltes Kind nicht abtreiben, sondern zur Welt bringen, ab Januar 2017 eine Geldprämie von 4000 Złoty auszuzahlen (924 Euro).

Schon 48 Stunden später war der Entwurf von der Regierungsmehrheit der Partei Recht und Gerechtigkeit (Pis) angenommen, und damit das nächste Kapitel aufgeschlagen im Streit um das Recht auf Abtreibung in Polen. Schon riefen Frauenrechtlerinnen zu neuem Protest auf - aus ihrer Sicht ist das neue Gesetz eine zynische Initiative, die vor allem Polens erstarkte Fundamentalisten besänftigen soll.

Die Dunkelziffer geht in die Hunderttausende. Andere reisen ins Ausland

Abtreibung war in Polen zu kommunistischer Zeit erlaubt, doch wurde sie Anfang der 90er-Jahre unter dem damaligen Präsidenten Lech Wałesa, einem tiefgläubigen Katholiken, weitgehend verboten: Seitdem ist Abtreibung nur noch nach Vergewaltigungen, bei schwer behinderten Föten oder im Fall von Lebensgefahr für die Schwangere erlaubt. Folge: In Polen existiert ein Abtreibungsuntergrund aus wenigen Ärzten und etlichen Quacksalbern. Offiziell wurden 2015 in Polen 1040 Föten abgetrieben - die echte Zahl schätzen Experten auf 150 000. Und Tausende weitere Polinnen, die es bezahlen können, reisen zur Abtreibung nach Deutschland, Tschechien, Skandinavien oder Österreich.

Fundamentalistischen Katholiken war dies nicht genug. Die Organisation Ordo Iuris sammelte Hunderttausende Unterschriften für ein völliges Abtreibungsverbot, das etwa Helfer ins Gefängnis bringen sollte. Ende September nahm das Parlament ein entsprechendes Gesetz mit großer Mehrheit an - um es Anfang Oktober mit ebenso großer Mehrheit abzulehnen. Der Grund: Rund 100 000 Polinnen hatten in Dutzenden Städten gegen das Gesetz protestiert - und den Polens Politik bestimmenden Pis-Parteichef Jarosław Kaczynski dazu gebracht, der Fraktion die Kehrtwende und die Stimmabgabe gegen das komplette Abtreibungsverbot zu befehlen.

Kaczynski aber verdankt seinen Sieg bei der Parlamentswahl vor einem Jahr vor allem auch der Unterstützung ultra-konservativer Katholiken wie von Ordo Iuris. Um diese nach der Ablehnung des Gesetzes zu besänftigen, kündigte Kaczynski an, er wolle dafür sorgen, dass künftig "sogar Schwangerschaften, bei denen das Kind zum Tode verurteilt oder stark deformiert ist, mit einer Geburt enden - damit das Kind getauft und beerdigt wird und einen Namen hat". Das am Freitag verabschiedete Gesetz mit der Geburtsprämie ist die Umsetzung dieser Idee.

Auch ein Gesetzentwurf zur Abschaffung staatlicher Förderung von künstlicher Befruchtung liegt bereits im Parlament. Und etliche Pis-Parlamentarier wollen weiter ein vollständiges Abtreibungsverbot: Der Gazeta Wyborcza zufolge musste die Parteiführung mehrere Abgeordnete zurückpfeifen, die ein Abtreibungsverbot wieder zur Abstimmung bringen wollten.

Kaczynski zufolge sollen in Polen auch Föten, bei denen etwa das Down-Syndrom festgestellt werde, künftig geboren werden und der Staat dafür sorgen, dass solche Kinder ein "normales Leben führen" könnten. Das am Freitag verabschiedete Gesetz sieht neben der Geburtsprämie auch staatliche Betreuung und Förderung betroffener Familien oder die Aufnahme schwer behinderter Kinder vor. Experten zufolge wiederholt das Gesetz allerdings nur Bestimmungen, die in Polen seit Jahren Gesetz sind - aber im kriselnden Gesundheitswesen nicht umgesetzt werden.

"Es gibt in Polen keinerlei systematische Unterstützung für Mütter von unheilbar kranken Kindern", sagte der Krakauer Theologe und Philosoph Tadeusz Gadacz der polnischen Newsweek-Ausgabe. Gadacz ist in Krakau auch im Vorstand des Tischner-Hospizes für unheilbar kranke Kinder. Fazit seiner jahrelangen Arbeit: "Die Regierenden wenden ihren Blick ab von Müttern behinderter Kinder, wie auch von vergewaltigten Frauen . . . Es gibt keinerlei Hilfe, weder materiell noch psychologisch." Dem neu verabschiedeten Gesetz zufolge soll die Regierung nun binnen nicht einmal zwei Monaten konkrete Hilfsmaßnahmen ausarbeiten und vor Jahresende ein weiteres Gesetz beschließen - ob dies tatsächlich für praxisnahe Hilfe sorgt und umgesetzt wird, ist eine andere Frage.

Aus Angst vor Fundamentalisten lehnen viele Ärzte auch legale Eingriffe ab

Kritiker sehen die Initiativen der Regierung als Manöver, mit denen Abtreibung auch ohne weiteres Verbot faktisch abgeschafft werden solle - jedenfalls offiziell und in staatlichen Einrichtungen. Die Regierung wolle ein von oben verordnetes Klima zu schaffen, das "in öffentlichen Krankenhäusern dazu führt, dass selbst in den noch vom Gesetz erlaubten Ausnahmefällen keine Abtreibungen mehr durchgeführt werden", analysierte Newsweek. Schon heute lehnen viele Ärzte aus Angst vor Sanktionen ultrarechter Fundamenatilisten selbst erlaubte Abtreibungen ab.

Frauenrechtlerinnen rufen nun für den 11. November zu weiteren Protesten gegen die restriktive Anti-Abtreibungspolitik auf. "Ich hoffe, dass der Protest aufhört, nur ein Protest von Frauen zu sein", kommentierte die Autorin Eliza Michalik. Auch polnische Männer sollten auf die Straße gehen, um nicht nur gegen das neue Gesetz zu demonstrieren, sondern auch dagegen, dass "religiöse Fanatiker in den Rang von Autoritäten erhoben werden".

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SZ vom 07.11.2016
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