Süddeutsche Zeitung

Polen:Längst am Limit

Die Zahl der Infektionsfälle schnellt nach oben. Das Gesundheitswesen ist Medizinern zufolge dafür kaum gerüstet. Schon deshalb, weil es in Bezug auf die Bevölkerung nirgendwo weniger Ärzte gibt.

Von Florian Hassel, Belgrad

Im September waren sich polnische Experten einig: Nur bei höchstens 2000 neuen Covid-19-Infizierten täglich könne Polens kränkelndes Gesundheitssystem den Kollaps vermeiden. Doch im Oktober ist diese Marke längst gerissen. Am Donnerstagvormittag schnellte die Anzahl neu Infizierter dem Gesundheitsministerium zufolge auf 8099. Modellrechner der Warschauer Universität gehen gar von einer bis zum Neunfachen höherliegenden Infektionszahl aus, so der Wissenschaftler Jakub Zieliński in der Gazeta Wyborcza.

Offiziell zeichnen Gesundheitsminister und Ministerpräsident ein Bild, in dem es genug freie Betten und Beatmungsgeräte gibt. Tatsächlich scheint der Kollaps da zu sein. "Im ganzen Land gibt es seit Langem keine Plätze für Kranke mit Covid-19 mehr. Jeder, der in einem Krankenhaus arbeitet, einen Covid-Kranken hat und versucht, ihn in ein Infektions-Krankenhaus zu verlegen, weiß dies ausgezeichnet", beschrieb es diese Woche Tomasz Siegel, Chef der Abteilung für Intensivmedizin und Narkose des Warschauer Czerniakowski-Krankenhauses. "Die veröffentlichten Statistiken sind eine Fiktion. Die Zahl der Beatmungsgeräte ist bedeutungslos - entscheidend ist die Zahl der Intensivplätze und des Personals, das zur Heilung der Schwerstkranken qualifiziert ist. Die Plätze der Intensivbetreuung sind zu Ende." Im Warschauer Krankenhaus des Innenministeriums - dem größten der Region - habe es schon eine Woche zuvor zwölf auf ein Beatmungsgerät wartende Covid-Patienten gegeben. Im Magazin Polityka beschrieben Mediziner aus ganz Polen fehlende Betten, Medikamente, Technik und Fachpersonal. Ärzte und Krankenschwestern versuchten oft vergeblich, einen Krankenhausplatz für Covid-Patienten zu finden, und berichten über Patienten, die noch im Krankenwagen gestorben seien. "Wenn es so weitergeht, haben wir hier in einem Monat die Lombardei", zitierte Polityka eine Notärztin.

Schon vor der Corona-Krise bildete Polen mit 238 Ärzten pro 100 000 Einwohnern das Schlusslicht in der Europäischen Union. Ärzte und Krankenschwestern arbeiten lieber in Deutschland oder anderen Ländern. Dort finden sie häufig bessere Arbeitsbedingungen vor. In Polen gebliebene Mediziner sind oft der Pension nahe - und damit selbst hoch gefährdet und oft infiziert.

Die Lubliner Epidemiologin Maria Korniszuk berichtete, im Krankenhaus von Grudziądz sei das gesamte Personal zur Bedienung der Beatmungsgeräte selbst in Quarantäne. Allein in Danzig hätten seit dem Sommer aus Angst oder wegen Überlastung zehn Lungenärzte und Infektiologen gekündigt, so die Gazeta Wyborcza.

Medizinern zufolge habe die Regierung "fünf Monate verschlafen und sich mit Wahlen oder einer Regierungsumbildung beschäftigt", anstatt etwa Reserveplätze zu schaffen und mehr Krankenschwestern für die Bedienung von Beatmungsgeräten zu schulen, zitierte Polityka einen Chefarzt. Kritikern zufolge habe die Regierung Maßnahmen wie Verbote großer Hochzeiten oder Gottesdienste zu früh aufgehoben. Dem Ex-Chef des polnischen Gesundheitsdienstes Andrzej Sośnierz zufolge wurde auch nichts getan, fehlende Kontaktverfolger der Gesundheitsämter einzustellen und zu schulen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5072821
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 16.10.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.