Süddeutsche Zeitung

Polen:Kampf um die Wahl

Ob und wie das Land am Sonntag einen Präsidenten bestimmt, ist auch wenige Tage vorher unklar. Während sich im Parlament Widerstand regt, berichten Oppositionspolitiker von Einschüchterungsversuchen der PiS.

Von Florian Hassel, Warschau

Es war eine ungewöhnliche Präsentation von Stanislaw Żółtek. Schon am 29. April zeigte der Präsidentschaftskandidat in Krakau ein offenbar komplettes Paket aller Wahlunterlagen, mit denen mehr als 30 Millionen wahlberechtigte Polen ausschließlich per Briefwahl einen neuen Präsidenten wählen sollen. Die Präsentation war nicht nur brisant, weil sensible Wahlunterlagen bei einem Kandidaten gelandet waren. Tatsächlich hätten sie noch nicht gedruckt sein dürfen. Bis heute gibt es nicht einmal ein gültiges Gesetz für Polens Wahl in Zeiten der Epidemie.

Eigentlich wollte Polen am 10. Mai und in einer Stichwahl am 24. Mai seinen neuen Präsidenten wählen. Dann kam die Coronakrise und ab Mitte März eines der schärfsten Epidemieregime Europas mit faktischer Ausgangssperre für die meisten Bürger. Der Wahlkampf, unverzichtbarer Teil einer demokratischen Wahl, fiel aus. Mit überwältigender Mehrheit sprachen sich die Polen in übereinstimmenden Umfragen gegen die Wahl im Mai aus und forderten stattdessen die Verhängung des Katastrophenzustandes: Dieser würde eine Wahl frühestens 90 Tage nach seinem Ende erlauben.

Doch Polens faktischer Regierungschef Jarosław Kaczyński, Vorsitzender der Regierungspartei PiS, will es anders. Würde erst im Herbst oder gar erst im Frühjahr 2021 gewählt, könnte der von der PiS gestellte Präsident Andrzej Duda abgewählt werden, gab Kaczyński im Staatsradio zu. Das Durchregieren der PiS, bei dem auch offen verfassungswidrige Gesetze vom Präsidenten unterschrieben werden, wäre dann vorbei.

Kaczyński ließ deshalb am 6. April innerhalb von fünf Stunden das Wahlgesetz ändern, was OSZE-Richtlinien für demokratische Wahlen widerspricht und nach geltendem polnischem Verfassungsrecht später als sechs Monate vor einer Wahl verboten ist. Die Änderungen bestimmten, der Präsident solle ausschließlich per Briefwahl gewählt werden. Wahlkommissionen wurden geändert, der staatlichen Wahlkommission die Wahlorganisation entzogen und einem Vize-Ministerpräsidenten und der Post unter dem Kommando des bisherigen Vize-Verteidigungsministers übertragen.

Hunderttausende könnten keine Stimme abgeben, weil sie nicht an ihrer Meldeadresse wohnen

Freilich ist das rechtswidrige Gesetz bis heute nicht in Kraft, denn der Senat, das Oberhaus des Parlaments, wird von der Opposition kontrolliert. Der Senat dürfte das Gesetz am Dienstag oder Mittwoch voraussichtlich ablehnen. Erst danach kann die PiS dieses Nein im Sejm überstimmen und der Präsident das Gesetz unterschreiben. Und erst dann darf der Vize-Ministerpräsident die Briefwahl konkret vorbereiten; dürfen Wahlunterlagen gedruckt werden, darf die Post bei Städten und Gemeinden die Herausgabe der Wählerlisten verlangen. Tatsächlich ist vieles davon schon geschehen, unabhängigen Juristen und Oppositionspolitikern zufolge mutmaßlich rechtswidrig.

Findet die Wahl tatsächlich statt, dürften hunderttausende Wahlberechtigte von der Wahl ausgeschlossen sein. Viele Polen wohnen nicht an ihrer Meldeadresse, Aktualisierung und Abgleich der Daten erfordern schon im Normalfall Monate. Und in Deutschland, England oder Spanien trugen sich bei der Parlamentswahl im Herbst 2019 rund 320 000 Polen in die Wählerlisten ein - auch diese bleiben von der Wahl offenbar großteils ausgeschlossen.

Das Wahlbüro der OSZE kam in einer Analyse vom 27. April zu dem Schluss, dass die Vorbereitung und Organisation der geplanten Wahl "wichtige Prinzipien demokratischer Wahlen gefährdet". Die OSZE kritisierte die Organisation und faktische Kontrolle der Präsidentschaftswahl durch die Regierung statt der Wahlkommission, das Einsammeln beliebig vieler ausgefüllter Stimmzettel durch Bevollmächtigte und den faktischen Ausschluss von Beobachtern. Dass die von der PiS gestellte Sejm-Präsidentin die Wahl auch verschieben dürfe, habe keine Basis in der polnischen Verfassung.

Ehemalige polnische Präsidenten und Ministerpräsidenten rufen zum Boykott auf

Wegen derlei Mängel und des ausgefallenen Wahlkampfes lehnten drei ehemalige polnische Präsidenten und sechs ehemalige Ministerpräsidenten am 30. April die "Pseudo-Wahlen" öffentlich ab und riefen zum Boykott auf. Damit sind sie in bester Gesellschaft. Einer Studie des Warschauer Zentrums für Demokratiestudien zufolge lehnen fast 70 Prozent der Polen eine Wahl im Mai ab. Eine Briefwahl heißen gerade einmal neun Prozent der Befragten gut. Und weniger als ein Drittel will an der Wahl teilnehmen. Allerdings wäre die überwältigende Mehrheit von ihnen PiS-Wähler: Der von ihrer Partei gestellte Präsident Andrzej Duda würde Umfragen zufolge bei niedrigster Wahlbeteiligung, doch mit überwältigender Stimmenmehrheit wiedergewählt.

Doch ob die Wahl tatsächlich stattfindet, ist nicht nur wegen zahlreicher organisatorischer Probleme offen. Denn im Sejm wackelt die knappe Regierungsmehrheit: Jarosław Gowin, Chef einer mit 16 Abgeordneten an der Regierung beteiligten Partei, verhandelt mit der Opposition und tritt gegen eine Wahl im Mai auf. Folgen Gowin bei der wohl am Donnerstag anstehenden Abstimmung über das Wahlgesetz mindestens fünf Parteifreunde und stimmen mit Nein, ist das Wahlgesetz abgelehnt, Polens Regierungsbündnis möglicherweise am Ende.

Oppositionspolitiker berichten übereinstimmend, die PiS versuche, einzelne Oppositionsabgeordnete mit Angeboten lukrativer Posten bei der anstehenden Abstimmung auf ihre Seite zu ziehen. Angehörige des Gowin-Lagers sollen angeblich mit Drohungen, ihre Regierungsposten oder Jobs in Staatsfirmen zu verlieren, auf Linie gebracht werden, berichtet die Gazeta Wyborcza. Spekuliert wird auch, Kaczyński werde die Wahl auch bei fehlendem Gesetz durchführen lassen. Anfechtungen gegen die Wahl könnten von einer PiS-kontrollierten Sonderkammer am Obersten Gericht oder vom ebenfalls parteikontrollierten Verfassungsgericht abgelehnt werden.

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SZ vom 05.05.2020
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