Süddeutsche Zeitung

Nach Flugzeugabsturz bei Smolensk:Kaczynskis Tod entzweit Polen und Russland

Ende des Tauwetters: Warschau wirft dem Kreml vor, die Untersuchung der verunglückten Präsidentenmaschine zu verschleppen. Auch innenpolitisch sorgt der Tod Kaczynskis für Streit.

Thomas Urban, Warschau

Die polnische Regierung hat Moskau offen vorgeworfen, die Untersuchung des Flugzeugunglücks von Smolensk zu verschleppen. In der Nähe dieser russischen Großstadt war am 10. April die polnische Präsidentenmaschine bei dichtem Nebel abgestürzt, neben Staatspräsident Lech Kaczynski kamen alle anderen 95 Personen an Bord ums Leben. Mehrere hundert nationalistische und fundamental-katholische Demonstranten verhinderten am Dienstag den Abbau eines Holzkreuzes vor dem Warschauer Präsidentenpalast, das dort katholische Pfadfinder wenige Tage nach dem Unglück zum Gedenken an die Opfer des Flugzeugunglücks errichtet hatten. Es kam dabei zu Handgreiflichkeiten. Der Platz vor dem Palast sollte zur Amtseinführung des neuen Staatspräsidenten Bronislaw Komorowski hergerichtet werden. Die Zeremonie ist für Freitag vorgesehen, nachdem das Verfassungsgericht die Präsidentenwahlen vom 4. Juli für gültig erklärt hatte.

Tusk unter Druck

Premier Donald Tusk, der die konservative und proeuropäische Bürgerplattform (PO) führt, erklärte zum Stand der Untersuchungen durch russische Experten: "In letzter Zeit ist unsere Zusammenarbeit schlechter als zu Beginn." Den Warschauer Medien zufolge hält Moskau Berichte zurück, nach denen auch die russischen Fluglotsen Fehler begangen haben. Überdies seien die technischen Einrichtungen des Militärflughafens von Smolensk veraltet und hätten teilweise nicht ausreichend funktioniert. Auch verhinderten die russischen Behörden demnach bislang eine Befragung der Fluglotsen durch polnische Ermittler. Einer von ihnen sei sogar in Pension geschickt worden.

Den Berichten zufolge konnte das Radar anfliegende Maschinen nur mit einer Genauigkeit von 300 Metern erfassen. Es wird daher nicht ausgeschlossen, dass falsche Höhenangaben der Lotsen zu dem Absturz beigetragen haben. Bislang gilt es nur als erwiesen, dass die Tupolew über einer Talsenke in der Anflugschneise an Höhe verloren hat und dann in einem zum Flughafen ansteigenden Waldstück zerschellt ist. Unklar ist nach wie vor, ob Vorgesetzte des Piloten oder Präsident Lech Kaczynski persönlich Druck ausgeübt haben, trotz der widrigen Witterung zu landen. Mehrere Passagen aus den Aufzeichnungen der Cockpit-Gespräche deuten darauf hin.

Tusk gab bekannt, dass er den polnischen Chefermittler Edmund Klich damit beauftragt habe, in Moskau alle bisher erstellten Unterlagen anzufordern. Tusk war in den letzten Wochen zunehmend unter Druck der Medien geraten. Ihm wird vorgeworfen, der russischen Seite die Untersuchung überlassen zu haben und nicht bei seinem Kollegen Wladimir Putin auf eine gleichberechtigte Einbindung polnischer Experten gedrungen zu haben.

Tusk war bereits in den Tagen vor dem Unglück vorgehalten worden, er habe mit Putin gemeinsame Sache gegen Lech Kaczynski gemacht. Dieser war an der Spitze einer Delegation aus Politikern und Generälen unterwegs zu einer Gedenkfeier aus Anlass des 70. Jahrestags der Ermordung von mehr als 4000 polnischen Offizieren und Intellektuellen unweit des russischen Dorfes Katyn bei Smolensk. Tusk dagegen hatte sich drei Tage zuvor zu einer offiziellen russisch-polnischen Feier mit Putin auf dem Gräberfeld von Katyn getroffen. Er wird von einem Teil der Kommentatoren beschuldigt, die Bildung einer gemeinsamen polnischen Delegation aus Präsident und Premier hintertrieben zu haben; er habe nämlich bereits den kommenden Wahlkampf um das höchste Staatsamt im Blick gehabt und deshalb Kaczynski keine Bilder von Katyn gegönnt.

Das zum Gedenken an die Opfer des Flugzeugunglücks aufgestellte Holzkreuz sollte nach einer Übereinkunft des Präsidialamtes mit dem Warschauer Erzbischof Kazimierz Nycz zur benachbarten Annenkirche gebracht werden. PO-Politiker begründeten die Entfernung des Kreuzes mit der Verfassung, die die Trennung von Kirche und Staat festschreibt. Doch forderten Abgeordnete der nationalkonservativen Oppositionspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS), das Kreuz an seiner Stelle zu lassen, bis dort ein Denkmal für die Opfer von Smolensk errichtet sei. Die Demonstranten verwehrten auch den Priestern, die das Kreuz in einer feierlichen Prozession zur Annenkirche bringen wollten, den Weg dorthin. Bei der Rangelei, zu der es bei dieser Gelegenheit kam, versprühten Polizisten Tränengas. PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski, der Zwillingsbruder des verunglückten Präsidenten, warf Komorowski vor, er stelle sich auf die Seite der Postkommunisten und europäischen Sozialisten, wenn er die Entfernung des Kreuzes durchsetzen wolle. Komorowski selbst ist praktizierender Katholik.

Das Verfassungsgericht bestätigte nun erwartungsgemäß das Ergebnis der Stichwahl, bei der Komorowski 53 und Jaroslaw Kaczynski 47 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Die Richter erklärten, 16 von insgesamt 386 Beschwerden wegen Unregelmäßigkeiten seien begründet gewesen, doch hätten diese Fälle keinen Einfluss auf das Ergebnis gehabt.

Der nationalkonservativen Tageszeitung Rzeczpospolita sagte Jaroslaw Kaczynski, die bisherige Untersuchung gebe sehr viel Anlass zu Zweifeln. Die Zeitung berichtete unter Berufung auf nicht namentlich genannte Mitarbeiter Kaczynskis, diesen habe der Bericht über die Obduktion des Leichnams seines Bruders befremdet. Auf den Fotos sei deutlich an den Kleidungsresten zu erkennen gewesen, dass ein Körperteil, der dem Präsidenten zugeordnet worden sei, eigentlich einem polnischen General gehörte. Kaczynski selbst hatte kürzlich erklärt, er habe den Bruder an einer Narbe erkannt. Daraus schlossen die polnischen Berichterstatter, dass das Gesicht des Verunglückten völlig verbrannt gewesen sei. Das Flugzeug war nach dem Aufprall auf den Boden explodiert. Bekannt wurde auch, dass Putin Kaczynski nach seinem Eintreffen am Unglücksort in das eigens für ihn aufgeschlagene Zelt eingeladen habe. Doch Kaczynski habe jegliche offizielle Begegnung abgelehnt.

Nach Protesten der PiS ließ die Traditionsbrauerei Lech eine Werbetafel gegenüber der Krakauer Wawelburg entfernen, wo Lech Kaczynski bestattet wurde. Der polnische Werbespruch war zweideutig, er konnte "Ein kaltes Lech", aber auch "Der kalte Lech" heißen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.983690
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 04.08.2010/mob
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.