Süddeutsche Zeitung

Polen:Streit um den Rechtsstaat eskaliert

  • Das Europaparlament und die Venedig-Kommission des Europarats warnen Warschau vor einer Missachtung europäischen Rechts.
  • Kritisiert wird unter anderem das Disziplinierungsgesetz der polnischen Regierung.
  • Die Venedig-Kommission warnt, Warschau kündige den Grundsatz des Vorrangs von EU-Recht vor nationalem Recht auf.

Von Florian Hassel, Warschau

Der Konflikt zwischen der EU und der polnischen Regierung um die Unabhängigkeit der Justiz spitzt sich zu. Das Europaparlament und die Venedig-Kommission des Europarats, das weltweit führende Fachgremium für Rechtsfragen, warnten Warschau am Donnerstag vor einer Missachtung europäischen Rechts. Justizminister Zbigniew Ziobro sprach von einer "Parodie und Komödie" und warf den Staaten eine "neokoloniale Haltung" gegenüber Polen vor.

Kritisiert wird unter anderem das Disziplinierungsgesetz der polnischen Regierung, das vermutlich am Freitag vom Oberhaus zurückgewiesen, aber gleichwohl von der Regierungsmehrheit im Unterhaus beschlossen werden kann. Die Venedig-Kommission warnt, Warschau kündige den Grundsatz des Vorrangs von EU-Recht vor nationalem Recht auf. Am 20. Dezember beschlossene Gesetzentwürfe sollten Richter disziplinieren und die Folgen eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) "für null und nichtig erklären". Dies sei eine "ernsthafte Infragestellung des Prinzips des Vorrangs von EU-Recht", heißt es in dem Gutachten.

In einem Urteil vom 19. November hatte der EuGH bekräftigt, auch polnische Richter müssten im Zweifel das übergeordnete EU-Recht anwenden und diesem widersprechende einheimische Gesetze missachten. Auf diesem Urteil aufbauend, erklärte das Oberste Gericht Polens am 5. Dezember, eine regierungsbestimmte Disziplinarkammer, die jeden polnischen Richter, Staatsanwalt oder Rechtsanwalt entlassen kann, ebenso für rechtswidrig wie einen Landesjustizrat zur Auswahl aller polnischen Richter.

Die Regierung lässt indes beide Institutionen weiterarbeiten und initiierte Gesetze, wonach Richter keinerlei Institutionen oder Ernennungen mehr für rechtswidrig befinden dürfen. Die EU-Kommission beantragte am Dienstag beim EuGH, Warschau jede weitere Tätigkeit der Disziplinarkammer per einstweiliger Verfügung zu verbieten. Sollte der EuGH entsprechend entscheiden, will Warschau das Urteil offenbar nicht befolgen.

Gesetz zielt "grundlegend darauf, Kritik zu unterdrücken"

"Urteile des Gerichtshofes der Europäischen Union sind in unserem Land in Übereinstimmung mit Artikel 87 unserer Verfassung keine Quelle des Rechts. Dies sind die Verfassung, Gesetze, Beschlüsse, also nationale", sagte Polens Vize-Justizminister Marcin Warchoł der Gazeta Wyborcza. Tatsächlich bestimmt Artikel 87 der polnischen Verfassung auch internationale Verträge wie Polens Ratifizierung der EU-Verträge als Rechtsquelle: Dem Vertrag von Lissabon zufolge ist der EuGH als Organ der EU das verbindliche Entscheidungsorgan in Streitfällen.

Die Venedig-Kommission stellte fest, das neue Disziplinierungsgesetz ziele "grundlegend darauf, Kritik zu unterdrücken", reduziere die schon zuvor "bedeutend verringerte" Unabhängigkeit der Justiz weiter und widerspreche EU-Recht und der europäischen Menschenrechtskonvention. Das Europaparlament forderte die EU-Mitglieder auf, sich in den Verfahren der EU klar gegen die Verstöße von Grundwerten zu positionieren.

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SZ vom 17.01.2020/mkoh
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