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Polen:Freie Auswahl

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Aus den Kandidaten für das Amt des Gerichtspräsidenten darf Staatspräsident Duda nach Belieben aussuchen. Früher bestimmten die Richter selbst.

Von Florian Hassel, Warschau

Polens Oberstes Gericht (SN) hat in einer Vollversammlung seiner Richter fünf Kandidaten für das Amt des Gerichtspräsidenten gewählt - das Ergebnis der Wahl lag bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht vor. Das Oberste Gericht ist die höchste Instanz in allen Straf- und Zivilprozessen und entscheidet zudem über die Gültigkeit von Wahlen und die Entlassung von Richtern und Staatsanwälten. Die Amtszeit der bisherigen Gerichtspräsidentin Małgorzata Gersdorf, bekannt als Vorkämpferin für eine unabhängige Justiz unter der nationalpopulistischen Regierung, war am 30. April zu Ende gegangen. Gersdorf verzichtete darauf, für eine zweite Amtszeit zu kandidieren.

Hintergrund ihres Verzichts war unter anderem die Änderung des Wahlreglements: Wurde der Präsident des Obersten Gerichts früher mit einfacher Mehrheit aller SN-Richter gewählt und vom polnischen Präsidenten lediglich vereidigt, so dürfen die SN-Richter nun nur fünf Kandidaten wählen. Polens Präsident Andrzej Duda darf unter den fünf Kandidaten frei auswählen, wer nächster Gerichtspräsident wird - auch denjenigen mit den wenigsten Stimmen.

Rechtsexperten halten dieses faktische Ernennungsrecht des Präsidenten für verfassungwidrig, weil es richterliche Unabhängigkeit beseitige. Die Änderung wurde eingeführt, weil unter den 99 SN-Richtern 57 noch unabhängig ernannte Richter die Mehrheit stellen. Diese hätten unter dem alten Reglement voraussichtlich Gersdorf wiedergewählt oder einen anderen unabhängigen Juristen.

42 SN-Richter indes wurden von einem politisch kontrollierten Landesjustizrat ausgewählt und gelten als regierungsnah. Ihr Status als Richter - und damit ihr Recht zur Teilnahme an der Wahl vom Freitag - steht nach Urteilen des Gerichtshofes der Europäischen Union und noch unabhängiger Richter des Obersten Gerichts in Frage. Das gilt auch für Kamil Zaradkiewicz, von Präsident Andrzej Duda zum 1. Mai zum "amtierenden Präsidenten" des Obersten Gerichts ernannt und am Freitag Organisator der Vollversammlung. Polens Verfassung sieht keinen "amtierenden Präsidenten" des Obersten Gerichts vor.

Nach beendeter Wahl dürfte Polens Präsident Andrzej Duda schnell den nächsten Gerichtspräsidenten ernennen. Nach dem Willen von Polens faktischem Regierungschef Jarosław Kaczyński soll das Oberste Gericht die für Sonntag angesetzte, aber wegen der Coronakrise nicht stattfindende Präsidentschaftswahl für ungültig erklären. Danach soll der Wahltermin neu angesetzt werden. Sowohl in Polen wie in Europa dürften indes Entscheidungen eines mit zweifelhafter Legalität ernannten neuen SN-Präsidenten in Zweifel stehen.

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SZ vom 09.05.2020
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