Polen:Wer bittet eigentlich in Polen um Asyl?

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Tausende Flüchtlinge pro Woche kamen vor drei Jahren zeitweise in Polen an. So viele sind es nicht mehr. Doch die Regierung will die Grenze weiter abriegeln. (Foto: Leonid Shcheglov/AP)

Der polnische Premier Donald Tusk warnt vor kriminell organisierten Syrern und Iranern, die das Asylrecht ausnutzen wollten. Tatsächlich aber erhalten nur wenige Tausend Menschen in Polen Schutz – und sie kommen weder aus Nahost noch aus Afrika.

Von Viktoria Großmann, Warschau

Russland und Belarus missbrauchten das Asylrecht, erklärte der polnische Premier Donald Tusk vergangene Woche. Die Diktatoren der beiden Länder rekrutierten in Iran und Syrien paramilitärisch organisierte Truppen, die sie dann über die EU-Grenze nach Polen schickten. Das sei der Grund, warum seine Regierung zeitweise und örtlich begrenzt das Asylrecht aussetzen wolle.

In einem Interview mit der Gazeta Wyborcza sprach Tusk von etwa 60 bis 120 illegalen Grenzübertritten aus Belarus täglich. „Wir halten mehrere Tausend Soldaten und Offiziere in voller Kampfbereitschaft. Jeden Tag sind mehrere Hundert Menschen im Einsatz“, sagte er. Das sei kostspielig, aber zum Schutz Polens notwendig.

Bei Bürgerrechtlern und Hilfsorganisationen, die an der östlichen EU-Grenze tätig sind, stießen Tusks Forderungen auf Kritik. Sie zweifeln seine Aussagen über kriminell organisierte Flüchtlinge an. Den Plan, das Asylrecht auszusetzen, halten sie für überzogen und pochen auf internationale Vereinbarungen. Die gesetzlichen Hürden, Asyl zu erhalten, seien ohnehin sehr hoch. Zudem sei die Zahl der Menschen, die an Polens Ostgrenze ankomme, gering.

Überprüfen lassen sich Tusks Aussagen bislang nicht

Für dieses Jahr weist die Statistik des polnischen Grenzschutzes bislang rund 28 000 versuchte illegale Übertritte der belarussischen Grenze nach Polen aus. Das wären etwa 100 pro Tag. Da es sich um registrierte Versuche handelt, kann dabei eine Person mehrmals gezählt worden sein. Wie viele Menschen tatsächlich Polen erreicht haben, geht daraus nicht hervor.

Deutlich niedriger ist die Zahl der Asylgesuche. Von Januar 2023 bis Mitte September 2024 gingen beim Grenzschutz an der polnisch-belarussischen Grenze Asylgesuche von 4088 Menschen ein. Diese Zahl nennt die staatliche Ombudsstelle für Bürgerrechte auf ihrer Homepage und beruft sich dabei auf eine Statistik des Grenzschutzes. Das wären zwischen sechs und sieben Asylgesuchen pro Tag. Einig sind sich humanitäre Helfer und der Grenzschutz in ihren Beobachtungen, dass nur wenige Menschen in Polen um Asyl bitten wollen. Auf die meisten warten auf polnischer Seite Schlepper, die sie weiterbringen Richtung Deutschland oder in andere westliche EU-Länder.

Überprüfen lassen sich Tusks Aussagen über kriminell organisierte Flüchtlinge bislang nicht, die Regierung legte auch keine Beweise vor. Fest steht, dass Belarus und Russland aktiv Menschen auf diese Fluchtroute schicken. Vermutlich auch, um an ihnen zu verdienen. In Brüssel nannte man das schon im Sommer 2021, als täglich Tausende über diese Route kamen, einen hybriden Angriff. Heute spricht man von Instrumentalisierung.

Dominika Ożyńska von der Menschenrechtsorganisation Egala wirft der polnischen Regierung vor, „ihr Versagen kaschieren“ zu wollen. Mit der Aussetzung des Asylrechts legalisiere man Pushbacks. Das bedeutet, Menschen, die um Asyl bitten wollen, werden illegal über die Grenze zurückgedrängt. Polnische Gerichte haben bereits Fälle von Pushbacks verurteilt, der Europäische Menschengerichtshof befasst sich derzeit mit mehreren solchen Fällen aus Polen, Litauen und Lettland.

Ożyńska gehört zu den Leuten, die solche Pushbacks dokumentieren. Auch die Grupa Granica führt eigene Statistiken. Tusks Aussage, dass vor allem Kriminelle nach Polen gelenkt werden, weist Ożyńska zurück. „Es kommen definitiv Menschen an, die Asylgründe vorbringen können.“ Derzeit häufig aus Jemen, Somalia und Afghanistan. Weiterhin sei die Flucht durch die weiten Wälder und Sümpfe für die Menschen extrem gefährlich, hinzu kämen Misshandlungen durch Grenzschützer sowohl in Belarus als auch in Polen. Seit September 2021 seien 87 Menschen im Grenzgebiet auf der Flucht gestorben.

Am häufigsten erhalten Menschen aus Belarus Asyl

Die Grupa Granica zählte im vergangenen Jahr 7583 einzelne Bitten um Hilfe, bis Ende August dieses Jahres bereits 6333. Es verändere sich also bei der Zahl der Ankommenden nicht viel, so die Erfahrung der Grupa Granica, die allerdings die Zahlen des Grenzschutzes grundsätzlich für plausibel hält. Wenig zuverlässig hingegen findet sie die Statistik der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Nach deren Daten wurden entlang der gesamten östlichen EU-Außengrenze von Rumänien bis Finnland in diesem Jahr 13 195 irreguläre Grenzübertritte registriert, wie es in der Behördensprache heißt, ein Plus von 192 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Frontex hat zwar seinen Hauptsitz in Warschau, ist allerdings weder in Polen noch in den baltischen Ländern an den Grenzen präsent.

Doch wer erhält überhaupt in Polen Asyl? Die Statistik der Ausländerbehörde ist eindeutig. Zum dritten Mal infolge erhielten Menschen aus Belarus die meisten positiven Asylbescheide. Das ist folgerichtig, denn sie stellen auch die meisten Anträge. Gefolgt von Ukrainern und Russen. Laut Statistik des Ausländeramtes stellten 2023 etwa 9500 Menschen einen Antrag auf internationalen Schutz. Das waren etwas weniger als 2022. Nur insgesamt 500 Gesuche kamen von Ägyptern und Türken. 4600 Menschen wurde 2023 Asyl in Polen gewährt: Sie kamen aus Belarus, der Ukraine und Russland. Bis Ende September 2024 hat Polen weiteren etwa 4800 Menschen Asyl bewilligt. Diesmal kam die größte Gruppe aus der Ukraine, gefolgt von Menschen aus Belarus und Russland. Auf welchem Weg diese Menschen nach Polen einreisten, darüber gibt die Statistik keine Auskunft.

Die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer dürfen ohnehin aufgrund einer EU-weiten Schutzvereinbarung bleiben und arbeiten. Derzeit lebt knapp eine Million Menschen aus der Ukraine in Polen, weniger als in Deutschland. Hinzu kommen etwa 100 000 aus Belarus. Maciej Duszczyk, Staatssekretär im Innenministerium und Migrationsforscher, sprach in einem Fernsehinterview von 2,5 Millionen Ausländern in Polen. Damit sei eine Grenze erreicht, mehr könne dem sozialen Frieden schaden.

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