Klage vor dem EuGH:Brüssel wirft Polen mehrfachen Rechtsbruch vor

Ministerpräsident Mateusz Morawiecki beantragte, prinzipiell den Vorrang polnischen Rechts vor EU-Recht festzustellen.

Polens Premier Matteusz Morawiecki nannte Viktor Orbán den "besten, treuesten Freund" des Landes.

(Foto: POOL/REUTERS)

Polens Regierung verstößt mit der Justizreform der EU-Kommission zufolge gegen EU-Recht. Deshalb klagt die Behörde vor dem EuGH. Ob sie auch ein Bußgeld anstrebt, ist noch unklar.

Von Florian Hassel, Belgrad, und Matthias Kolb, Brüssel

Die EU-Kommission geht wegen der polnischen Justizgesetze gegen die Regierung in Warschau vor. Die Behörde kündigte an, beim Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) Klage gegen Polen einzureichen, um die Tätigkeit einer 2017 neu eingerichteten Disziplinarkammer am Obersten Gericht zu verbieten und deren bisherige Entscheidungen aufzuheben. Die Kammer ist mehreren Gerichtsurteilen zufolge illegal.

Zudem sollen etliche Gesetze, die die Unabhängigkeit von Richtern und anderen Juristen einschränken, für rechtswidrig erklärt werden. "Die nationalen Regierungen sind frei, ihre Justizsysteme zu reformieren, aber sie müssen sich dabei an die EU-Verträge halten", teilte Vizekommissionschefin Věra Jourová mit.

Die Disziplinarkammer kann in Polen Richter, Staatsanwälte und andere Mitarbeiter der Justiz bestrafen oder entlassen. Ihr gehören Richter an, deren Ernennung von der Regierung kontrolliert wird. Urteilen des EuGH und noch unabhängiger Richter am Obersten Gericht Polens zufolge ist die Kammer kein Gericht, seine Entscheidungen haben keine Rechtskraft. Im April 2020 verbot der EuGH Polen jede Tätigkeit der Disziplinarkammer.

Polens von der nationalpopulistischen Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) geführte Regierung ignoriert dies, ebenso wie der von der PiS gestellte Präsident und von der Partei ins Amt gebrachte Juristen. So arbeitet die Disziplinarkammer weiter. Seit Herbst 2020 hob sie die Immunität unabhängiger Richter auf, die mutmaßlich rechtswidriges Vorgehen der Regierungsmehrheit untersuchten oder Maßnahmen zur Abschaffung einer unabhängigen Justiz kritisierten.

So wies etwa der Warschauer Richter Igor Tuleya die Staatsanwaltschaft mehrfach an, einen mutmaßlichen Rechtsbruch von PiS-Parlamentariern zu verfolgen. Er wurde daraufhin suspendiert und soll nun in einem Strafverfahren seinerseits angeklagt werden. Die illegale Disziplinarkammer will am 21. April über einen möglichen Haftbefehl gegen Tuleya entscheiden.

Ob die EU-Kommission Bußgelder beantragen wird, ist offen

Staatsanwälte, die Justizminister Zbigniew Ziobro unterstehen, fordern zudem die Aufhebung der Immunität mehrerer angesehener, noch unabhängiger Richter am Obersten Gericht. Unter diesen ist Włodzimierz Wróbel, der im Januar 2020 maßgeblich an einem Urteil beteiligt war, das die Illegalität der Disziplinarkammer feststellte. Er war damals auch Favorit für das Amt des Gerichtspräsidenten. In einem rechtswidrigen Verfahren wurde jedoch die parteinahe Ex-Vizejustizministerin Małgorzata Manowska durchgesetzt.

Offen bleibt, ob die EU-Kommission beim EuGH tägliche Bußgelder in Millionenhöhe gegen Polen beantragen wird. Justizkommissar Didier Reynders bestritt den Vorwurf, die Behörde habe zu langsam reagiert. Man habe zunächst mit Polen in Dialog treten müssen, wie vom EU-Recht vorgeschrieben. Es ist bereits das vierte Vertragsverletzungsverfahren, das im Bereich Rechtsstaatlichkeit gegen Polen eingeleitet wird.

Mit der Klage will die Kommission zudem erreichen, dass der EuGH Gesetze für EU-rechtswidrig erklärt, die polnischen Richtern verbieten, sich direkt auf geltendes EU-Recht zu berufen oder die Legalität Hunderter mutmaßlich illegal ernannter Richter und Staatsanwälte infrage zu stellen. Zudem sollen Sanktionen gegen unabhängige Richter aufgehoben werden.

Der Premier will Vorrang des nationalen Rechts vor EU-Recht

Polens Regierung gibt sich kompromisslos. Am 28. April soll das Verfassungsgericht, an dem ebenfalls rechtswidrig ernannte Richter urteilen und dessen Präsidentin regelwidrig ernannt wurde, über einen Antrag der illegalen Disziplinarkammer entscheiden. Diese möchte, dass Artikel der europäischen Verträge für verfassungswidrig erklärt werden, die Polen verpflichten, einstweiligen Anordnungen im Bereich der Justiz zu folgen. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki beantragte beim Verfassungsgericht zudem, prinzipiell den Vorrang polnischen Rechts vor EU-Recht festzustellen.

Damit nicht genug: Am Obersten Gericht urteilt auch eine, ebenfalls von der Politik abhängige "Außerordentliche Aufsichtskammer", die seit ihrer Gründung 2018 jedes Urteil des vergangenen Jahrzehnts aufheben kann - was Experten der Venedig-Kommission an Unrechtsjustiz der Sowjetzeit erinnerte.

Einem neuen Gesetz zufolge soll die Frist zur Aufhebung rechtskräftiger Urteile ausgeweitet werden. Die Präsidentin des Obersten Gerichts soll über die Besetzung von Kammern bestimmen dürfen, die bindende Urteile mit Quasi-Gesetzeskraft erlassen können; Polens Präsident soll Vorsitzende einzelner Kammern ernennen können. Nach Analysen der juristischen Dienste beider Parlamentskammern und von Polens Bürgerrechtskommissar Adam Bodnar sind Bestimmungen des neuen Gesetzes verfassungswidrig.

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