Polen befindet sich im Wahlkampf. So scheint es zumindest dieser Tage. Donald Tusk, früher EU-Ratspräsident, heute Vorsitzender von Polens größter Koalitionspartei Platforma Obywatelska, Bürgerplattform, tourt durch das ganze Land. Er spricht auf Plätzen, in Universitäten, besucht Firmen und Wohnviertel. Erklärt, was die rechtspopulistische Regierung aus seiner Sicht alles falsch macht. "Die Regierung muss zur Besinnung kommen und den Polen das Geld besorgen, das ihnen zusteht!", schrieb er kürzlich auf Facebook. Gemeint sind die Milliarden Euro aus dem Corona-Hilfsfonds, welche die EU für Polen noch immer nicht freigibt - weil die Justiz seit Jahren nicht mehr unabhängig arbeiten kann.
Zeitungskommentatoren spekulieren bereits über vorgezogene Parlamentswahlen, Umfragen werden diskutiert, laut denen die Regierungspartei PiS verliert. Turnusgemäß steht die Wahl im Herbst 2023 an. Aber Tusk verkündet schon mal, dass eine vereinte Opposition derzeit auf 50 Prozent der Wählerstimmen komme, die PiS aber nur auf 30 Prozent. Soll Polen also den Weg Ungarns gehen? Dort hat die vereinte Opposition von rechts bis links nichts gegen Viktor Orbáns Fidesz ausrichten können, Orbán ging aus der Wahl Anfang April sogar gestärkt hervor.
Die Opposition hat ihr Thema jedenfalls gefunden: Geld. Es geht nicht mehr nur um Medienfreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz. Es geht um 24 Milliarden Euro an nicht rückzahlbaren Zuschüssen aus dem Corona-Hilfsfonds der EU. Das Land braucht das Geld dringend. Allein schon, um die sozialen Wohltaten zu bezahlen, welche die PiS gern an ihre Wähler verteilt. So wurde etwa Anfang des Jahres für drei Monate die Mehrwertsteuer auf null gesetzt. Oder wie Tusk auf Facebook von seinen Bürgergesprächen im ganzen Land berichtet: "Anstieg der Lebensmittelpreise, Treibstoff, massive Rechnungen und steigende Kreditraten. Die Haushaltbudgets polnischer Familien halten es nicht mehr aus."
Visegrád-Gruppe:Ein anderes Bild von Europa
Claus Leggewie und Ireneusz Paweł Karolewski schauen mit Sorge auf die Vierergemeinschaft Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei - aber sie haben auch Hoffnung.
"Sie wollen gar keine Rechtsstaatlichkeit"
Dafür soll die polnische Regierung die Disziplinarkammer für Richter auflösen und grundsätzlich seine Justiz wieder in einen Zustand bringen, der den Namen unabhängig verdient. Bisher hält die EU nicht nur Geld zurück, sie zieht auch Geld ein. Eine Million Euro täglich soll das Land zahlen, weil es trotz eines Gerichtsurteils des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) die Disziplinarkammer nicht auflöst. Da Warschau die Strafen nicht überweist, hat die Kommission nun die Zwangsgelder für die ersten beiden Monate nach dem Urteil mit Fördergeldern verrechnet.
Auf diese Weise treibt die Behörde auch seit Februar die Zwangsgelder gegen Polen von einem anderen EuGH-Urteil ein, bei dem es aber nicht um Rechtsstaatlichkeit ging, sondern um einen Tagebau. Insgesamt hat die Kommission schon 170 Millionen Euro an Fördergeldern zurückgehalten, um Zwangsgelder zu begleichen.
"Fresh money" ist das, was die polnische Regierung braucht, so ist das auch in Brüssel immer wieder zu hören. Dadurch kommt nun immerhin Bewegung in die lange Zeit so verfahrenen Gespräche mit Brüssel. Doch müsse die PiS Justizminister Zbigniew Ziobro ruhigstellen, den Hardliner vom ultrarechten Koalitionspartner Solidarna Polska, das ist die Wahrnehmung in den EU-Institutionen. Ziobro hatte bislang einen Gesetzentwurf von Präsident Andrzej Duda blockiert, laut dem die umstrittene Disziplinarkammer für Richter aufgelöst werden soll. Allerdings nur nominell.
Die PO-Abgeordnete Kamila Gasiuk-Pihowicz nennt die Arbeit der PiS an einer Abschaffung der Disziplinarkammer auf Facebook schlicht einen "Schwindel". Die Zugeständnisse an Ziobro bringen nicht nur ihre Partei, sondern auch andere Regierungskritiker auf die Palme. Während die PO ein Misstrauensvotum fordert, klebt die Bürgerrechtsorganisation Akcja Demokracja landesweit Sticker auf denen steht: "Ziobro muss weg". Ziobro ist nicht nur Justizminister, sondern zugleich Generalstaatsanwalt. Auf dem Aufkleber hält er eine Justitia-Marionette in den Händen. Es gebe "keinen größeren Schaden für den polnischen Staat" als Ziobro, schreibt Gasiuk-Pihowicz. Im Eintrag vom 13. Mai heißt es zudem: "Die PiS betrügt die Polen und die Europäische Kommission. Sie wollen gar keine Rechtsstaatlichkeit."
Am selben Tag verkündete die Regierung auf einmal, man habe sich innerhalb der Koalition auf eine Lösung des Streits mit Brüssel geeinigt und sei auf dem Weg einer Einigung mit der EU. In Brüssel sieht man das ganz anders. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat in einem Brief an die Fraktionsspitzen des Parlaments versichert, eine Auszahlung der zurückgehaltenen Milliarden aus dem Corona-Wiederaufbaufonds stehe nicht unmittelbar bevor, anders als von der polnischen Regierung dargestellt. Es werde weiter verhandelt.
"Man hat Richter versetzt, rausgeschmissen, drangsaliert"
Von der Leyen wiederholte die drei Bedingungen, die erfüllt sein müssten: Die umstrittene Disziplinarkammer des Obersten Gerichts muss abgeschafft werden, das Disziplinarsystem für Richter muss reformiert werden, unrechtmäßig entlassene Richter müssen wieder eingestellt werden. Laut den Regeln des Corona-Fonds wäre eine Vorab-Vorauszahlung nur bis Ende letzten Jahres möglich gewesen. Seither reicht es nicht mehr, wenn ein Land die Erfüllung von Bedingungen nur verspricht - es müssen konkrete Schritte eingeleitet sein, damit das Geld fließen kann.
1700 Ernennungen von Richterinnen und Richtern in den letzten zwei Jahren seien bereits unrechtmäßig gewesen, sagt der Grünen-Abgeordnete Daniel Freund, Mitglied im Verfassungs- und Haushaltskontrollausschuss des Europaparlaments. Wenn nun die Disziplinarkammer formell abgeschafft werde, würden die Mitglieder eben im Obersten Gericht eingegliedert. "Man hat Richter versetzt, rausgeschmissen, drangsaliert, um sie sich gefügig zu machen. Darüber hinaus wurden Gerichte vergrößert und mit Getreuen aufgefüllt, sodass vormals unabhängige Richter keine Mehrheit mehr haben", sagt Freund.
Daniel Freund erwartet, dass bis spätestens zum 30. Mai, wenn sich die Staats- und Regierungschef zu einem Sondergipfel in Brüssel treffen, eine grundsätzliche Einigung zwischen Kommission und polnischer Regierung verkündet wird. Denn es gibt den politischen Willen, angesichts des Krieges in der EU Einigkeit innerhalb der EU zu demonstrieren und den Polen zu helfen.