Es ist Volksfeststimmung auf den Straßen der polnischen Hauptstadt. Fahnen schwenkend und Eis schleckend, Kinder auf den Schultern und Plakate in der Hand ziehen die Menschen an diesem Sonntagmittag durch die Warschauer Innenstadt. Donald Tusk, Vorsitzender der größten polnischen Oppositionspartei Bürgerplattform (PO) hatte zum "Großen Marsch für die Demokratie" aufgerufen. Am frühen Nachmittag verkünden die Veranstalter eine Teilnehmerzahl: 500 000 Menschen. Medien sprechen später von mindestens 300 000 Menschen in Warschau, der Demonstrationszug war mehr als anderthalb Kilometer lang.
Schon die U-Bahnen in die Innenstadt sind heillos überfüllt, auch daraus machen sich die Leute einen Spaß, als ob das alles die Vorfreude steigere. Bevor sie sich geduldig auf die Bahnsteige drängen, stehen sie geordnet Schlange vor den Fahrkartenautomaten, von denen es an diesem Sonntag viel zu wenige zu geben scheint. Es sind bei weitem nicht nur Warschauer, die an diesem warmen Frühsommertag dem Aufruf Tusks gefolgt sind. Zehntausende sind in eigens organisierten Bussen, mit Zügen, mit den eigenen Autos angereist.
In der Menge vor dem Justizministerium steht eine Gruppe aus dem 300 Kilometer entfernten Tarnowitz in Schlesien. Die Lügen der rechtspopulistischen Regierungspartei PiS seien nicht mehr zu ertragen, steht in gereimter Form auf ihrem Plakat. "Nein, die Anreise ist überhaupt nicht weit", sagt der Mann mit dem Plakat, schwarze Kleidung, schwarzer Vollbart. "Schließlich geht es um viel." Wenn bei der Parlamentswahl im Herbst erneut die PiS gewinne, dann rutsche das Land in eine Diktatur ab. Die Lex Tusk habe den Ausschlag gegeben, dass er nun nach Warschau gereist sei.
Weitere Erklärungen der Truppe werden von lauten Reden und Musik übertönt, der Zug setzt sich in Bewegung am Sitz von Premier Mateusz Morawiecki vorbei zum Präsidentenpalast und schließlich zum Königsschloss in der Warschauer Altstadt. Ganz vorn dabei: der frühere Staatspräsident Lech Wałęsa, ehemals Anführer der Solidarność, die schließlich das kommunistische Regime zu Fall brachte.
Mit der sogenannten Lex Tusk will die PiS-Regierung ein Tribunal gegen Oppositionelle schaffen
Viele Plakate richten sich direkt an den heutigen Präsidenten Andrzej Duda. "Erst lesen, bevor du etwas unterschreibst", heißt es da zum Beispiel. Duda hatte am Pfingstmontag ein Gesetz unterzeichnet, auf dessen Grundlage eine Kommission zur Untersuchung russischer Einflussnahme eingesetzt werden soll. Die PiS macht keinen Hehl daraus, dass der frühere Ministerpräsident Donald Tusk der Erste sein soll, der vorgeladen wird, die Opposition nennt es daher "Lex Tusk". Der Gesetzestext offenbart blanke Willkür: Praktisch jeder kann in die Kommission berufen werden. Wer vorgeladen wird, ist gezwungen, auch zu erscheinen, und am Ende kann die Kommission einen Ausschluss einer Person von öffentlichen Ämtern für bis zu zehn Jahre beschließen. Diesen letzten Punkt will Andrzej Duda nun zwar abschwächen, es soll nur noch eine Empfehlung sein.
Am frühen Nachmittag steht Donald Tusk auf dem Schlossplatz: "Ihre Hoffnung war der Mangel an unserer Hoffnung", ruft er. "Das ist vorbei." Es sei nun an der Zeit, zusammenzustehen. "Wir gehen zu diesen Wahlen, um zu siegen, um die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen, um menschliches Unrecht wiedergutzumachen und damit die polnischen Familien zu versöhnen", sagt Tusk zu der Menge. "Wir werden unterschiedlicher Meinung sein, aber wir werden uns gegenseitig respektieren."
Nicht nur in Warschau, auch in anderen Städten Polens demonstrierten die Menschen am Sonntag für Demokratie, ein europäisches Polen, gegen die PiS-Regierung. Darunter in Krakau, Stettin und Tschenstochau. Am Nachmittag zogen einige Demonstranten nochmals zur Kanzlei von Premier Morawiecki sowie zum Wohnhaus des PiS-Parteivorsitzenden Jarosław Kaczyński.
Morawiecki erklärte am Sonntag, der "regierungsfeindliche" Marsch sei keineswegs ein Bürgerprotest, sondern von "alten Füchsen" aus den Oppositionsparteien organisiert. Tatsächlich hatten sich zahlreiche Bürgerrechtsbewegungen dem Aufruf Tusks angeschlossen, darunter der sogenannte Frauenstreik sowie Organisationen, die für eine unabhängige Justiz oder gleiche Rechte für Homosexuelle eintreten.