Süddeutsche Zeitung

Polen:Den "Albtraum" beenden

Ex-EU-Ratspräsident Donald Tusk kehrt in die polnische Politik zurück. Sein Ziel: die rechtsnationale PiS bei der nächsten Wahl zu besiegen. Doch zunächst muss er seine eigene Partei wieder aufbauen

Von Florian Hassel, Warschau

Die Antwort auf die Frage, wo das Böse sitzt, fällt in Polens Hauptstadt schon innerhalb kurzer Entfernungen sehr unterschiedlich aus. Für Donald Tusk, 2007 bis 2014 Ministerpräsident, "regiert in Polen heute das Böse" in Gestalt seines langjährigen Erzfeindes Jarosław Kaczyński und seiner nationalpopulistischen Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS). "Wir gehen aufs Feld, um mit diesem Bösen zu kämpfen", erklärte Tusk, der am Samstag auf einem Kongress der liberalkonservativen Partei Bürgerplattform (PO) im Warschauer Messezentrum Expo in die polnische Politik zurückkehrte.

Wenige Kilometer entfernt beantwortete der staatliche Fernsehsender TVP die Frage nach dem Bösen anders. TVP wird seit 2016 von Jacek Kurski geführt, der sich einst als Kaczyńskis "Bullterrier" lobte. Entsprechend liefern TVP-Nachrichten heute wenig Nachrichten, doch viel schwarze PR über echte und eingebildete Gegner der PiS. So verkörperte sich das Böse in der Person des zurückgekehrten Ex-EU-Ratspräsidenten Tusk: Dieser habe "Polen verkauft", "trägt die Verantwortung für den Brexit und die Migrantenkrise", ist "zynisch und rachsüchtig" und, nicht zu vergessen, ein Knecht der Deutschen, da er sich gern an der Seite Angela Merkels zeige und einst sogar auf einem CDU-Parteikongress sprach.

Für viele Polen ist derlei ein Déjà-vu. Nach der Jahrtausendwende bestimmten Duelle zwischen Tusk und Kaczyński die Politik - bis Tusk sein Amt als Ministerpräsident nach sieben Jahren aufgab, um 2014 Präsident des Europäischen Rates zu werden. Als seine Zeit dort 2019 endete, drängten seine Anhänger den exzellenten Organisator und charismatischen Redner, er solle zurückkehren und verhindern, dass die PiS nach Wahlsiegen 2015 und 2019 eine dritte Amtszeit bekomme und den "Weg des ungarischen Szenarios" (so die polnische Newsweek) vollende, also den Aufbau eines autoritären Regimes.

Gewiss, zumindest im Moment sind Kaczyński und seine Partei nach zahlreichen Skandalen weit von früherer Popularität entfernt und kommen in Umfragen statt auf knapp 45 nur noch auf gut 30 Prozent. Fänden heute Wahlen statt, würde die PiS abgewählt - wenn sich die Opposition zusammenrauft. Das aber wird eine der schwierigsten Aufgaben von Donald Tusk.

Die Partei hat viele Wähler verloren

Zunächst steht der Wiederaufbau seiner Partei an. Die PO liegt statt bei mehr als 40 Prozent wie zur Hochzeit unter Tusk als Ministerpräsident heute mitunter nur noch bei gut 15 Prozent. Zuletzt mühte sich der junge Borys Budka seit Januar 2020 als Parteivorsitzender. Vergeblich: Budka überzeugte weder die Polen noch die eigene Partei.

Am Samstag trat Budka auf dem Kongress als Parteichef zurück und bat Tusk ans Rednerpult. Dem reichte ein Wort für großen Beifall. "Wróciłem" - "ich bin zurückgekehrt". Sofort wurde klar, warum viele dies herbeigesehnt hatten. Tusk prangerte Korruption im Regierungslager und während der Corona-Pandemie ebenso an wie Kleinreden des Klimawandels, "Verachtung für Minderheiten", "autoritäre Neigungen und Hass auf jede Form von Freiheit". Die Außenpolitik der PiS habe Polen "in die komplette Einsamkeit geführt", so der Ex-Regierungschef. Die PiS habe es geschafft, die Beziehungen zu Russland, zu Deutschland und selbst zu den USA zu verderben. Es sei Zeit, "dass dieser Albtraum zu Ende geht".

So unzweifelhaft Tusks Charisma und rhetorische Brillanz sind, so unklar ist die politische Perspektive - selbst in der eigenen Partei. Tusks Rückkehr wurde zunächst umgesetzt, indem Budka als Parteichef und zwei von vier Vize-Parteivorsitzenden zurücktraten. Dann wurde Tusk mit 201:0 Stimmen ebenso zum Vize-Parteichef gewählt wie Budka mit 189:10 Stimmen. Als ältester Vize-Chef führt Tusk nun die Partei. Parteichef konnte er am Samstag nicht werden: Den bestimmen in der PO per Urwahl alle Mitglieder - wahrscheinlich im Herbst.

Doch in der PO gibt es einen weiteren Star: Rafał Trzaskowski, der im November 2018 mit einem triumphalen Wahlsieg Warschauer Oberbürgermeister wurde und im Juli 2020 trotz wegen der Pandemie ausfallenden Wahlkampfes den Sieg bei der Wahl zum polnischen Präsidenten nur knapp gegen Amtsinhaber Andrzej Duda verpasste.

Der OB ist erst 49 Jahre alt, im Unterschied zu Tusks 64 Jahren, und nicht nur bei jungen Polen beliebt. Seit seinem Fast-Sieg bei der Präsidentschaftswahl spielte Trzaskowski mit der Idee, eine eigene Bewegung aufzubauen. Am 27. Juni hatte seine Bewegung "Gemeinsames Polen" Premiere im westpolnischen Posen. Ende Juli will Trzaskowski mit dem Jugendprojekt "Campus Polen der Zukunft" folgen. Trzaskowski ist ebenfalls Vize-Parteichef der PO - und lässt offen, ob er bei der Urwahl zum Parteichef selbst antritt.

Trzaskowski marschiert bei Regenbogen-Paraden mit

Wahrscheinlich ist, dass Trzaskowski Tusk den Vortritt als Parteichef lässt und beide versuchen, getrennt unterschiedliche Wähler anzusprechen und dies in ein gemeinsames, wieder höheres Wahlergebnis für die PO umzumünzen. Tusk und seine Anhänger sprechen den konservativen Teil der Bürgerplattform an. Trzaskowski steht für eine liberal-modernere Richtung. Mitte Juni etwa marschierte er demonstrativ auf der jährlichen LGBT-"Parade der Gleichheit" mit - eine Position, die junge Städter anspricht, doch in konservativen Dörfern und Kleinstädten kaum begeistert.

Dort braucht das Duo Tusk-Trzaskowski die Zusammenarbeit mit mindestens einem Dritten: Szymon Hołownia. Der populäre katholische Ex-Fernsehmoderator liegt mit seiner binnen eines Jahres aufgebauten zentristischen Oppositionsbewegung "Polen 2050" in Umfragen bei 28 Prozent - weit vor der PO. Ohne dass er je eine Wahl gewonnen hätte, ist Hołownias Gruppierung schon im Parlament vertreten: "Polen 2050" wurde schnell so populär, dass acht Abgeordnete anderer Parteien zu ihr überliefen. Tusk soll sich bereits viermal mit dem politischen Senkrechtstarter getroffen haben. Zunächst hält sich Hołownia bedeckt: Polens Politik brauche "weder einen Papa noch einen Messias", kommentierte sein Lager die Rückkehr von Donald Tusk.

Offen ist auch, wie Tusk die Polen heute medial erreichen will. 2007 besiegte er im Wahlkampf Kaczyński in einem zur Legende gewordenen Fernsehduell. Doch wie schon der erste manipulative Bericht über Tusks Rückkehr zeigt, wird vor allem TVP, wichtigste Informationsquelle für PiS-Anhänger und viele Polen auf dem Land, ihm keine Bühne bieten, sondern mit allen Mitteln gegen ihn arbeiten. Viele jüngere polnische Wähler "kennen keinen anderen Tusk mehr als den der PiS-Karikaturen ... als eines radikalen Neoliberalen, gesellschaftlich Abgestumpften, als Marionette in den Händen westlicher Politiker und Kapitalisten", analysiert das Wochenmagazin Polityka. Gut möglich auch, dass Polens Justizminister-Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro echtes oder eingebildetes Belastungsmaterial gegen Tusk aus der Schublade holt.

Denn, so Polityka, Tusk könne mit "einem glaubwürdigen Plan der Rückkehr nach Europa, zu westlichen Werten, Regierungen des Rechts, gesellschaftlicher Solidarität und ruhiger Entwicklung" durchaus eine "ernsthafte Bedrohung" für das ideologische, konfrontative Regieren Kaczyńskis und seiner Anhänger sein. Je nach Umfrage glauben bis knapp zur Hälfte der Polen, dass die Rückkehr Donald Tusks in die Politik die Chance erhöht, die PiS an der Macht abzulösen.

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